Wochenlang hat sich die Ständige Impfkommission (Stiko) am Robert Koch-Institut Zeit gelassen mit der Entscheidung, ob eine Coronaimpfung für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 Jahren zu empfehlen sei oder nicht. Während die Politik schon längst Nägel mit Köpfen gemacht und den Heranwachsenden dieser Altersgruppe ein Impfangebot gemacht hatte, trotzte die Stiko dem Druck und sammelte Daten zu Risiken und Nebenwirkungen, zur Wirksamkeit und zu sozialen und psychischen Folgen der Lockdowns.
Am 16. August dann endlich die Entscheidung: Nach sorgfältiger Bewertung neuer wissenschaftlicher Beobachtungen und Daten komme man zu der Einschätzung, »dass nach gegenwärtigem Wissensstand die Vorteile der Impfung gegenüber dem Risiko von sehr seltenen Impfnebenwirkungen überwiegen«, teilte das Gremium am Montag mit.
Schnell waren neue Forderungen da: Kinder und Jugendliche sollten nun schnell geimpft werden, zum Beispiel auf Schulhöfen, verlangte Grünenfraktionschefin Göring-Eckardt. In mehreren Bundesländern gibt es dazu bereits konkrete Pläne.
Doch was bedeutet die Empfehlung der Stiko für die Kinder und Jugendlichen? Wie verlaufen die Diskussionen innerhalb der Familien? Hat die Verzögerung der Stiko nötige Entscheidungen zu lange nach hinten geschoben? Setzt sie Kinder, wie Kritiker sagen, unter sozialen Druck? Ist sie ein Segen, weil nun endlich genug Daten belegen, dass Impfungen schützen und das auch sinnvoll ist?
Der SPIEGEL hat einen Jugendlichen, eine Mutter, einen Vater und einen Kinderarzt gefragt, was sie von der Entscheidung halten und welche Sorgen und Fragen sie gerade beschäftigen.
Die Mutter:
»Wir haben seit der Stiko-Empfehlung unterschiedliche Einstellungen zur Coronaimpfung der Kinder in der Familie. Mein älterer Sohn, 15, möchte sich gern impfen lassen, der kleine, 12, interessiert sich auch, kann aber nach eigener Aussage noch warten. Mein Mann würde dem Expertenrat der Stiko vertrauen und der Empfehlung zur Impfung jetzt folgen. Ich hingegen möchte eher nicht, dass die Kinder sich impfen lassen.
Ich bin selbst zweimal gegen Covid geimpft, meine Kinder haben alle empfohlenen Impfungen, ich bin also keine generelle Impfgegnerin. Trotzdem ist meine Angst vor unbekannten Folgen der Impfung größer als die Angst vor der Erkrankung bei Kindern.
Das Risiko einer schweren Covid-Erkrankung schätze ich für Kinder als sehr gering ein. Daher finde ich es nicht richtig, sie zu impfen. Mein Eindruck ist, dass die Kinder in die Verantwortung genommen werden für die mangelnde Impfbereitschaft in der Bevölkerung. Das ist ungerecht. Jeder, der sich schützen will, kann sich schützen. Diese Aufgabe sollte nicht den Kindern zugeschoben werden, zumal das Ziel der Herdenimmunität ohnehin unerreichbar ist. Auch das Argument, dass es im Schulbetrieb einfacher ist mit geimpften Kindern, zählt für mich nicht. Denn wir wissen, dass einfache Maßnahmen wie Maske tragen, Abstand halten, Hygieneregeln beachten, Lüften, Luftfilter einsetzen und testen auch schützen können. Außerdem sind die Lehrer:innen zum großen Teil geimpft. Das macht Schule so sicher, wie es notwendig ist, um Präsenzunterricht zu gewährleisten. Der Impfstatus sollte keinesfalls, das sagt auch die Stiko, an soziale Teilhabe geknüpft sein.
Problematisch finde ich vor allem, dass wir einen Impfstoff einsetzen, mit dem wir noch keine langjährigen Erfahrungen haben. Wir können also noch nicht wissen, ob seltene Spätfolgen bei den Kindern und Jugendlichen auftreten. Auch bei der Schweinegrippe wurde erst nach einer längeren Beobachtungsdauer einer riesigen Gruppe von Geimpften deutlich, dass die Impfung sehr selten eine Narkolepsie auslösen kann. Was ist, wenn wir unsere Kinder ohne Not geimpft haben und später feststellen, dass es doch Spätfolgen gibt? Können wir uns das als Gesellschaft verzeihen?
Der 15-Jährige hat jetzt zweimal gesagt, dass er sich impfen lassen möchte. Jetzt müssen wir als Eltern diskutieren. Vermutlich werde ich dem Wunsch meines Sohnes nachgeben, weil er in der Coronazeit sehr gelitten hat. Ihn haben die Lockdowns krank gemacht, er ist mit der Situation überhaupt nicht klargekommen. Im ersten Lockdown hatte er den ersten großen Pubertätsschub, da hat er sich zurückgezogen und depressive Züge bekommen. Im Sommer 2020 wurde es wieder etwas besser, aber spätestens im zweiten Lockdown kam der Rückfall. Im Nachhinein war es furchtbar: Er war völlig isoliert von Freunden und Familie, hat niemanden mehr getroffen, sich nicht mehr ausgetauscht. Allein kam er da nicht mehr raus. In diesen Sommerferien war er daher zur psychotherapeutischen Behandlung in einer Tagesklinik. Das hat ihm geholfen, es geht ihm jetzt wieder besser.
Lesen Sie hier, wie die Stiko ihre Impfempfehlung für Kinder begründet
Fabian Sommer / picture alliance/dpa
Auch die Kinderärztin hat uns empfohlen, den Großen impfen zu lassen aufgrund seiner Vorgeschichte. Und dass, obwohl die seltenen Herzmuskelentzündungen bei Jungs häufiger auftreten als bei Mädchen. Auch wenn bislang alle davon Betroffenen offenbar wieder gesund geworden sind, mache ich mir Sorgen, dass so eine Entzündung Narben hinterlassen und eine Prädisposition für spätere Herzerkrankungen sein könnte.
Aber kann ich meinem Sohn – gerade wieder psychisch aufgepäppelt – zumuten, ungeimpft zu bleiben? Es wäre für ihn schwieriger, ins Kino, ins Schwimmbad oder zum Sport zu gehen. Natürlich erzählen die Kinder einander, wenn sie geimpft werden, und da schwingt ein gewisser Stolz mit. Spätestens wenn es in der Schule ans Testen geht, trennt sich die Spreu vom Weizen: Die Ungeimpften müssen sich testen lassen, die Geimpften dürfen so mitmachen, da ist der Impfstatus dann für alle sichtbar.
Ob den Experten der Stiko klar ist, dass sich mit ihrer Empfehlung der Druck auf die Kinder erhöht, sich impfen zu lassen? Ich zumindest fühle mich dadurch der Freiheit beraubt, eine individuelle Entscheidung treffen zu können.«
Die Identität der Mutter ist dem SPIEGEL bekannt. Sie möchte aufgrund der Krankengeschichte ihres Sohnes lieber anonym bleiben.
Der Jugendliche:
»Ich habe mir schon ein paar Gedanken gemacht. Aber es wurden schon so viele Menschen, auch Kinder, geimpft, dass ich mich letztlich auch dafür entschieden habe. Ich bin 14 Jahre alt. Ich wollte nicht der Erste in meinem Alter sein, der geimpft wird. Aber auch nicht der Letzte. Und da ich niemanden kenne, der oder dem es nach der Impfung schlecht ging, war die Sache für mich klar. Mein Kinderarzt, bei dem ich schon viele Jahre bin und dem wir sehr vertrauen, hat auch dazu geraten. Und meine Eltern sind auch geimpft.
Marc H., 14
privat
In meiner Klasse sind die meisten dafür und haben sich die erste Dosis auch schon abgeholt. Wir thematisieren das nicht groß, aber abgefragt wird schon ab und zu: ›Und, geimpft oder nicht?‹ Es gibt auch ›Querdenker‹. Da heißt es dann: ›Meine Mutter will nicht, dass ich geimpft werde, weil…‹, und dann kommt irgendeine Ausrede. Ich vermute, hinter dem Nichtimpfen steckt einfach Angst.
Im vergangenen Jahr war ich viel zu Hause. Ich habe mir ein kleines Zimmer errichtet, in dem ich immer die Schulaufgaben gemacht habe. Mit Freunden habe ich mich meistens nur an der frischen Luft getroffen, zum Beispiel zum Fahrradfahren. Deswegen erhoffe ich mir von dem Impfen auch, dass es das Leben ein bisschen freier macht.
Groß etwas geändert hat die Impfung nun aber nicht. Erstens, weil ich null Nebenwirkungen hatte. Zweitens, weil die vielen Hygieneregeln, an die sich alle halten müssen, ja nach wie vor gelten. Die Impfung macht wohl erst einen Unterschied, wenn wirklich noch mehr Menschen eine haben. Ich denke, das dauert noch, aber pandemiemüde bin ich trotzdem nicht. Es ist schon auszuhalten. Nur wäre es schön, wenn der Sommer noch ein bisschen dauern würde.«
Marc H., 14, geht in die neunte Klasse einer Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen.
Der Kinderarzt:
»In unserer Praxis haben wir Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren schon gegen Corona geimpft, bevor die Stiko ihre Impfempfehlung für diese Altersklasse ausgesprochen hatte, sie jedoch von der europäischen Arzneimittelbehörde empfohlen wurde. Damit gehörten wir zu geschätzt einem Drittel aller Kinderarztpraxen in Deutschland, die das angeboten haben.
privat
Klaus Rodens ist seit 1993 als Kinder- und Jugendarzt in Langenau bei Ulm niedergelassen. Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ).
Bislang waren es vor allem die 15-, 16- und 17-Jährigen, die sich haben impfen lassen. Bei ihnen steht die gesellschaftliche Teilhabe häufig im Vordergrund, sie wollen bei Veranstaltungen dabei sein und sich nicht ständig dafür testen lassen. Auch wenn wir Kinderärzte die Auffassung vertreten, dass eine Impfung keine Voraussetzung sein darf für diese Teilhabe, möchte ich die individuelle Entscheidung eines Heranwachsenden nicht bewerten. Zu viele Kinder und Jugendliche haben unter sozialer Isolation gelitten, da kann ich es verstehen, wenn sie in der Impfung nun auch eine Chance sehen.
Es kommen aber nicht ausschließlich die Älteren zum Impfen. Eine Zwölfjährige kam zum Beispiel am Tag nach ihrem zwölften Geburtstag zu mir und brannte regelrecht darauf, sich impfen zu lassen. Ein Kollege berichtete mir von einer knapp 13-Jährigen, die sich nach Aussage der Mutter zum Geburtstag nichts anderes als eine Impfung gegen Corona wünschte.
Bei vielen Kindern und Jugendlichen spielt eine Rolle, was sie über die Krankheit hören, im Freundeskreis etwa, in der Schule und im Fernsehen und anderen Medien. Aber auch die eigenen Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle: Einer meiner Patienten, ein 14-jähriger Junge, wollte sich unbedingt impfen lassen, weil er die Krankheit in seiner Familie erlebt hatte. Seine Großmutter war schwer erkrankt und gerade noch um die Intensivstation herumgekommen, seine Mutter hatte ebenfalls Covid entwickelt, und sein Großvater hatte sich symptomlos infiziert. Der Junge hatte mit eigenen Augen gesehen, wie unterschiedlich eine Infektion verlaufen kann, und wünschte sich die Impfung sehr dringend. Mir gegenüber war er sehr entschieden, und auch seine Mutter befürwortete die Entscheidung.
Alle Impflinge müssen gemeinsam mit ihren Eltern einen Aufklärungsbogen lesen, ausfüllen und unterschrieben zur Impfung mitbringen. Nur in einem Fall habe ich eine Mutter und ihr Kind wieder weggeschickt: Der ebenfalls sorgeberechtigte Vater war nicht einverstanden mit der Impfung. In so einem Fall darf ich das Kind nicht impfen.
Durch die Empfehlung der Stiko hat sich theoretisch daran jetzt etwas geändert: Weil die Stiko-Empfehlungen den aktuell anerkannten Stand der medizinischen Forschung widerspiegeln, würde eine Impfung rechtlich gesehen wohl dem Kindeswohl entsprechen. Dafür bräuchte ich aber eine familiengerichtliche Entscheidung. Rein praktisch würde ich daher in so einem Fall nicht impfen und Eltern und Kind bitten, zu einer Einigung zu kommen.
Anders als bei den vertrauten »Standardimpfungen« etwa gegen Masern, Keuchhusten oder Wundstarrkrampf, bei denen ich mich schon einmal ins Zeug legen kann, wenn es um Impfbereitschaft geht, setze ich bei der Covid-Impfung auf Informiertheit und weniger auf Überzeugung. In der Abwägung steht für mich auf der einen Seite eine individuell und in der Eindämmung der Pandemie sinnvolle Impfung mit überschaubaren Nebenwirkungen. Auf der anderen Seite steht die Covid-Erkrankung, die auch Jugendliche treffen kann – Stichwort Long Covid. Wer sich infiziert, kann andere anstecken, was letztendlich direkt und indirekt zu Einschränkungen der sozialen Teilhabe führen kann, insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung von neuen Mutanten.
Bevor ich impfe, kläre ich über die Risiken auf und darüber, dass eine Coronainfektion bei Kindern und Jugendlichen in den meisten Fällen unkompliziert verläuft. Wir wissen, dass die Impfung gut vor einer Infektion und einem schweren Verlauf schützt und wenig akute Nebenwirkungen hat. Dazu zählen Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Schmerzen im Arm, auch Fieber. Selten kann es nach der Impfung – bei Jungen deutlich häufiger als bei Mädchen – zu einer Entzündung des Herzmuskels kommen. Dieses Risiko ist größer als in der Allgemeinbevölkerung. Gleichzeitig wissen wir, dass es auch bei einer Covid-Erkrankung zur entzündlichen Herzbeteiligung kommen kann. Auch über teilweise gravierende längerfristige Folgen der Covid-Erkrankung (Long Covid) mehren sich die Veröffentlichungen.
Dann erkläre ich, woran man eine Herzmuskelentzündung erkennen könnte, die sich vermehrt in der zweiten oder dritten Woche vor allem nach der zweiten Impfung bemerkbar macht. Man könnte dann beispielsweise schneller aus der Puste sein beim Treppensteigen als sonst, man ist vielleicht insgesamt weniger körperlich belastbar und kommt schneller an seine Grenzen. Den Leistungssportlern unter meinen Patienten habe ich dringend geraten, sich in dieser Zeit nicht zu verausgaben und sich sportlich zurückzuhalten. Nach allem, was wir bislang aus Studiendaten wissen, haben sich alle Betroffenen nach einer Herzmuskelentzündung wieder erholt. Eine Garantie ist das aber nicht.
Nach dem Gespräch frage ich noch einmal alle, ob sie die Impfung immer noch wollen. Diese Klippe finde ich wichtig, denn nur weil ein Aufklärungs- und Einwilligungsbogen schon unterschrieben ist, heißt es nicht, dass man seine Meinung nicht noch ändern kann. Wer sich dann impfen lässt, bekommt meist schon nach drei Wochen die zweite Dosis.
Ich gehe davon aus, dass die Empfehlung der Stiko dazu führen wird, dass sich noch mehr Kinder und Jugendliche für die Impfung entscheiden werden. Dass sich die Stiko für die Bewertung Zeit genommen hat, spricht für ihre Unabhängigkeit, die ich extrem wichtig finde für eine so entscheidende Empfehlung. Davor habe ich großen Respekt. Zudem war es richtig, erst die am meisten gefährdeten Menschen zu impfen, dazu gehören die Alten und Kranken. Und gleichzeitig bin ich froh, dass die Datengrundlage jetzt auch für Kinder und Jugendliche zwischen 12 und 17 vorhanden ist.«
Der Vater:
»Meine Familie und ich, wir sind das Gegenteil von Impfverweigerern. Wir haben drei Kinder, und von uns fünfen sind fast alle geimpft – meine Frau und ich, der 18-Jährige, der 15-Jährige. Nur die Neunjährige hat noch keine Impfung bekommen. Das wird sie aber, sobald die Stiko dies auch für Kinder ihrer Altersklasse empfiehlt.
Jens R., 46
privat
Mein 15-jähriger Sohn ist schon seit einigen Wochen komplett durchgeimpft, schon bevor die Stiko ihre Empfehlung abgab. Das liegt daran, dass mein Sohn Risikopatient ist, er hat Diabetes Typ 1. Seit die Pandemie begann, musste er sehr vorsichtig sein und sich umfangreich schützen. Sobald die Stiko die Impfempfehlung für jugendliche Risikopatienten abgegeben hatte, wurde er vom Kinderarzt geimpft. Mein Sohn selbst wollte das auch – beziehungsweise: Es war für ihn überhaupt kein Thema. Ich habe das Gefühl, in den Cliquen wird ohnehin nur wenig über die Impferei gesprochen, die jungen Menschen haben andere Themen, sind froh, sich endlich wiedersehen zu können.
Meine Frau und ich sind also auf derselben Linie. Wir haben neulich bereits darüber diskutiert, ob wir die Neunjährige ohne Stiko-Empfehlung impfen lassen sollten, jetzt, zum Schulstart. Wir haben uns dagegen entschieden, weil wir der Expertise der Stiko vertrauen und selbst medizinische Laien sind. Wir schätzen unser medizinisches Wissen nicht höher ein als das der Expertinnen und Experten, die sich seit langer Zeit damit beschäftigen. Es ist gut und wichtig, dass die Stiko sich Zeit nimmt, sich von Politik und Gesellschaft nicht drängen lässt und ihre Empfehlung erst dann abgibt, wenn die Studienlage ausreichend ist. Wir wollen, dass das alte Leben zurückkommt, deswegen warten wir nun geduldig und impfen, impfen, impfen. Und genauso machen das auch viele unserer Angehörigen und Bekannten.«
Jens R., 46, hat zwei Söhne und eine Tochter, er lebt in Mühlheim.
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