Warum hat der 16

Als der 16-Jährige aus dem Schlaf erwacht, ist etwas anders als sonst. Sein rechter Bauch tut ihm heftig weh, es ist ein neuer Schmerz, den der Junge noch nicht kennt. Die Kopf- und Nackenschmerzen sind da, immer noch, die Übelkeit auch. Wieder wird er in die Kinderklinik gebracht, er kennt das schon, dreimal ist er bereits dort gewesen. Ohne Erfolg.

Der Junge spürt, wie sein Herz pocht. Eine Pflegekraft im Krankenhaus zählt mit, es sind 160 Schläge pro Minute. Normal wären zwischen 60 und 80. Aber vor allem der Blutdruck ist viel zu hoch: 239/162 Millimeter Quecksilbersäule (mmHG). Der Normbereich liegt bei 120/80 mmHg. Die Medizinerinnen und Mediziner müssen schnell handeln.

Warum ist der Blutdruck so exorbitant hoch? Woher kommen die Bauchschmerzen? Und was ist zuvor passiert? Mit diesen Fragen beginnt – endlich – der Weg zur richtigen Diagnose. Bis hierhin hat es mehr als eineinhalb Jahre gedauert.

Vom Chiropraktiker zur Physiotherapie, vom Migränemedikament zum Schmerzmittel

17 Monate zuvor hat der Junge das erste Mal Kopf- und Nackenschmerzen, die mehrmals in der Woche auftreten und dann wieder verschwinden. Weil er kurz zuvor einen Unfall mit einem Quad gehabt hat, vermutet er, dass die Schmerzen daher kommen. Zwei Monate später stößt er beim Fußball mit einem anderen Jugendlichen zusammen, die Schmerzen nehmen zu. Im Nachhinein sagt er, auf einer Skala von 1 bis 10 habe die Intensität damals schon bei 8 gelegen.

Seine Eltern bringen ihn in eine Kinderklinik. Neben leichten Verspannungen im Trapezmuskel am Rücken und einer erhöhten Herzfrequenz können die Ärztinnen und Ärzte nichts Auffälliges finden, auch seine Wirbelsäule sieht in Röntgenaufnahmen gesund aus, einen Anhalt für eine Verletzung entdecken sie nicht.






Innerhalb der folgenden 15 Monate probieren die Kinderärzte und Neurologinnen, die den Jungen gemeinsam betreuen, unterschiedliche Therapien aus: Er bekommt das Schmerzmittel Ibuprofen, das Migränemittel Sumatriptan, das Muskelrelaxans Cyclobenzaprin und das Beruhigungs- und Muskelentspannungsmittel Diazepam. Er geht zur Physiotherapie, zum Chiropraktiker, bekommt Massagen und Akupunktur.

Die Kopfschmerzen bleiben.

Übelkeit und Tunnelblick

Drei Monate, bevor der Junge mit der Blutdruckkrise im Krankenhaus landet, kommt Übelkeit zu den episodischen Kopfschmerzen hinzu. Sobald er sich hinlegt, nehmen die Kopfschmerzen zu, wenn er Sport treibt auch. Manchmal bekommt er einen Tunnelblick und muss sich übergeben, dann fühlt sich sein Kopf eine Weile etwas leichter an. Die Ärzte empfehlen ihm, vorübergehend auf alle sportlichen Aktivitäten zu verzichten.

Noch einmal, diesmal zwei Tage vor der Aufnahme, wird der Junge ins Kinderkrankenhaus gebracht. Nachdem seine Kopfschmerzen ihn geweckt haben, übergibt er sich zweimal. Sein Herz rast und er kann nicht zur Schule gehen. Als die Eltern ihn in die Klinik bringen, verordnen die Ärztinnen und Ärzte ihm dort ein Migränemittel, eine Arznei gegen Übelkeit und ein Kortisonpräparat. Damit schicken sie ihn wieder nach Hause.

Jetzt lässt der hohe Blutdruck keinen Zweifel zu: Der Junge ist ein medizinischer Notfall, es drohen Organschäden. Fieber hat er zwar nicht, aber er schwitzt, seine Haut ist blass und er kann aufgrund der Schmerzen nur in kurzen Sätzen von seinen Symptomen erzählen. Schnell wird ein EKG aufgezeichnet. Darin zeigen sich auffällige Herzaktivitäten und Anzeichen für eine Herzvergrößerung. Hinweise auf eine Herzschädigung oder einen Herzinfarkt aber nicht.

Um die hypertensive Krise – wie Mediziner den stark erhöhten Blutdruck nennen – zu beherrschen, lassen sie Blutdrucksenker als Infusion in seine Venen tropfen. Der Blutdruck fällt rasch ab, schnellt aber bei einem Auslassversuch sofort wieder in die Höhe.

Herz, Hirn, Trauma?

Die Blutwerte des Jungen offenbaren, dass seine weißen Blutkörperchen deutlich erhöht sind. Das könnte für eine Infektion sprechen, aber auch andere Ursachen haben. Ebenfalls zu hoch sind seine Nierenwerte, der Blutzucker und ein Eiweiß aus dem Herzmuskel, das zum Beispiel bei Verletzungen – wie etwa durch einen Infarkt – erhöht ist.

Der Junge wird nun zur weiteren Therapie und Suche nach den Ursachen auf die Intensivstation des Massachusetts General Hospital in Boston verlegt. Dort befragen die Ärztinnen und Ärzte ihren Patienten erneut. Vorerkrankungen sind bei ihm nicht bekannt, seine Mutter und sein jüngerer Bruder sind gesund, der Vater hat Bluthochdruck. Er kommt gut in der Schule mit, nimmt keine Drogen, raucht nicht und trinkt zweimal im Monat ein alkoholisches Getränk. Mit einem Body-Mass-Index von 27 ist der Junge bei einer Größe von 183 Zentimetern übergewichtig, sein Wachstum ist normal verlaufen.

Die Medizinerinnen und Mediziner erwägen unterschiedliche Ursachen für seine Kopfschmerzen:

  • Migräne und Spannungskopfschmerzen kommen zwar am häufigsten vor, sind aber aufgrund der gescheiterten Therapieversuche unwahrscheinlich.

  • Ein Hirntumor wäre mit einer konstanteren Verschlechterung verbunden und er hätte weitere neurologische Symptome wie etwa Schwindel, Halbseitenstörungen, Sprech-, Gang- oder Sehstörungen.

  • Auch der Quad-Unfall erscheint als Ursache unwahrscheinlich, weil Traumata häufig mit weiteren Beschwerden wie Ängsten, Schlaflosigkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten einhergehen.

  • Wahrscheinlicher ist, dass Bluthochdruck Auslöser der Kopfschmerzen ist, auch wenn dieser zuvor nicht festgestellt worden ist.

Was könnte die Blutdruckkrise ausgelöst haben?

Bluthochdruck bei Jugendlichen wiederum kann höchst unterschiedliche Ursachen haben: Ein metabolisches Syndrom etwa, zu dem neben Bluthochdruck auch Fettleibigkeit und Zucker- und Fettstoffwechselstörungen gehören. Auch verschiedene Hormonstörungen etwa im Cortisolhaushalt oder im Adrenalinkreislauf könnten den Blutdruck steigern, eine Schilddrüsenüberfunktion oder Stoffwechselerkrankungen. Mitunter sind auch seltene Tumore in den Hormondrüsen Auslöser.

Auf der Suche nach Hinweisen untersuchen die Expertinnen und Experten seine inneren Organe, Blut und Urin. Im Ultraschall zeigt sich eine Struktur oberhalb der rechten Niere, die dort nicht hingehört. In der Computertomografie ist zu sehen, dass die im Durchmesser sieben Zentimeter große Struktur von Blut umgeben ist. Die Medizinerinnen und Mediziner haben nun einen klaren Verdacht.

Bild A und B: Die Pfeile zeigen in diesen Ultraschallbildern auf die rund sieben Zentimeter große Raumforderung oberhalb der rechten Niere (engl. Kidney);

Bild C und D: Auch in den Computertomografieaufnahmen ist die Struktur zwischen den Pfeilen gut zu erkennen (die Nieren und die Wirbelkörper und Rippenanschnitte stellen sich weiß dar; was in Bild C links zu sehen ist, befindet sich im Körper rechts)

Auf jeder Niere sitzt normalerweise wie ein Hütchen eine sogenannte Nebenniere. Auch wenn die Organe nicht jedem bekannt sind: Diese Hormonfabriken sind extrem wichtig für den Menschen. Im Nebennierenmark werden die lebenswichtigen Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin gebildet, die den Blutdruck und den Herzschlag regulieren, aber auch vegetative Prozesse steuern wie den Wärmehaushalt oder Angst. In der Rinde der Organe entstehen Cortisol, Aldosteron und Androgene – Hormone, die den Zucker-, Fett- und Eiweißstoffwechsel steuern, den Wasserhaushalt regulieren und als Geschlechtshormone im Körper wirken.

Die Verdachtsdiagnose steht

In beiden Organbereichen können Tumore entstehen, die dazu führen können, dass zu viele der jeweiligen Hormone gebildet werden. Die Behandler glauben, dass der 16-jährige Patient ein sogenanntes Phäochromozytom hat, einen gutartigen Tumor im Nebennierenmark.

Das ist zwar eine seltene Erkrankung, nur etwa zwei bis acht Fälle treten pro einer Million Menschen jährlich neu auf. Typisch sind aber der phasenweise viel zu hohe Blutdruck, Herzrasen und Kopfschmerzen durch die hohen Spiegel von Adrenalin und Noradrenalin, die auch als Katecholamine bezeichnet werden.

Auch die bei dem Patienten erhöhten Blutzuckerwerte gehören zu den Folgen eines Phäochromozytoms, weil die Hormone sowohl den Aufbau von Zucker fördern als auch die Zahl des für den Zuckerabbau zuständigen Insulins reduzieren. Die Bauchschmerzen wiederum rühren vermutlich von den Blutungen her, die den Tumor umgeben und das Bauchfell reizen. Das erhöhte Troponin, das für einen Muskelschaden des Herzens spricht, könnte ebenfalls durch den Katecholaminüberschuss entstehen.

Die Laboruntersuchungen geben den Ärztinnen und Ärzten recht: Über 24 Stunden wurde der Urin des Patienten aufgefangen und anschließend auf die Abbauprodukte der Katecholamine untersucht. Bestimmte Werte waren fast 45-fach höher als der obere Grenzwert.


»30 verschiedene Störungsbilder nachahmen«

»Die Symptome durch diesen Katecholaminüberschuss, den diese Tumoren produzieren können, können 30 verschiedene medizinische Störungsbilder nachahmen«, schreiben die Autoren in ihrem Case Report im »New England Journal of Medicine«. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht mehr überraschend, dass die richtige Diagnose so lange nicht gefunden wurde.

Die Therapie ist jetzt zwar klar, aber auch heikel: Der Tumor muss entfernt werden, zuvor muss aber der aus dem Ruder gelaufene Blutdruck stabil sein. Bleibt er zu hoch, könnten die Organe beschädigt werden. Senken die Ärzte ihn zu stark, könnte etwa im Gehirn eine gefährliche Minderdurchblutung drohen.

Elf Tage lang erhält der Junge blutdrucksenkende Alpha- und später auch Betablocker als Infusionen. Dann wird er operiert. Die Chirurginnen und Chirurgen entfernen den Tumor, die pathologische Untersuchung bestätigt den Verdacht eines gutartigen Tumors.

Schon vier Tage nach dem Eingriff kann er die Intensivstation verlassen, zwei Tage später das Krankenhaus. Blutdrucksenkende Mittel braucht er nun nicht mehr – und auch keine Medikamente gegen eine vermeintliche Migräne.

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