Antikörper, T-Zellen, Kreuz-Reaktivität: Das große Corona-Immunitäts-Rätsel

Wer einmal an Covid-19 erkrankt war und die Infektion überstanden hat, kann nicht noch einmal daran erkranken. Oder? Viel Wissen gibt es in der aktuellen Pandemie nicht, dafür viele Vermutungen. Was wir wissen – und was nicht.

Der Nothilfekoordinator der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist skeptisch, dass das neue Coronavirus nach der rasanten Ausbreitung rund um den Globus noch eliminiert werden kann. „Dieses Virus kann in der Bevölkerung heimisch werden, es kann sein, dass es nie mehr verschwindet“, sagte Michael Ryan Mitte Mai in Genf.

Anders als bei der saisonalen Grippe gibt es gegen Sars-CoV-2 bisher keine Impfung. Forscher erwarten einen Impfstoff frühestens in mehreren Monaten. Bisher beschränkt sich die Corona-Therapie vor allem auf die Linderung der Symptome.

Immer häufiger stellt sich deshalb die Frage nach einer möglichen Immunität nach überstandener Covid-19-Erkrankung. Gab es in der Vergangenheit noch einige Skeptiker, sind sich die meisten Wissenschaftler heute doch einig, dass ein Mensch nach der Krankheit wenigstens eine Zeit lang immun gegen Sars-CoV-2 ist. Denn im Verlauf einer Infektion bildet das Immunsystem eines Menschen unter anderem Antikörper, um den eingedrungenen Erreger zu bekämpfen.

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Reaktion des Körpers: So reagiert das Immunsystem auf Sars-CoV-2

Wenn jemand sich mit Sars-CoV-2 infiziert, dockt das Virus an sogenannte ACE2-Rezeptoren an. Es vermehrt sich anschließend in den Körperzellen, wodurch das Immunsystem alarmiert wird. Zuerst reagiert die angeborene (unspezifische) Immunabwehr, sobald sie die schädlichen Erreger erkennt. „In diesem Moment entscheidet sich, ob es überhaupt zu einer wesentlichen Erkrankung kommt oder nicht“, erklärt Thomas Löscher, Internist und Infektiologe vom Berufsverband Deutscher Internisten (BDI).

Ist das Immunsystem stark, bekämpft es die Viren erfolgreich und der Betroffene zeigt nur leichte oder gar keine Krankheitssymptome. Ein schwaches Immunsystem hingegen verhindert die Virusvermehrung nicht ausreichend. Ein schwerer oder gar kritischer Verlauf bis hin zu Lungenentzündungen oder Multiorganversagen können folgen. Funktioniert die Immunabwehr, arbeitet auch das erworbene (spezifische) Immunsystem mit, um die Krankheitserreger wieder loszuwerden.

Je älter Menschen werden, umso weniger aktiv ist die angeborene Abwehr, ihre Zellen reagieren weniger stark. Gleichzeitig funktioniert das Immungedächtnis nicht mehr so gut. „Das Immunsystem wird im Alter vergesslicher, das wissen wir von Impfungen“, ergänzt Virologin Ulrike Protzer, Institutsdirektorin des Instituts für Virologie am Helmholtz Zentrum München. Chronische Vireninfektionen können die altersbedingten Veränderungen des Immunsystems noch beschleunigen.

Nach spätestens zehn Tagen entwickelt Körper spezifische Sars-CoV-2-Immunabwehr

Bei gesunden beziehungsweise jungen Menschen gelte aber: „Nach etwa einer Woche bis zehn Tagen entwickelt der Körper eine spezifische Immunabwehr auf das Coronavirus“, beschreibt Infektiologe Löscher, der auch die ersten Patienten in München betreut hat, den Weg zur Immunität.

Der Organismus bildet nun also Abwehrzellen, die sich speziell gegen dieses Virus richten. Mit diesen Antikörpern und der zellulären Immunantwort hat der Infizierte also gelernt, den Erreger auszuschalten. Wer eine Coronavirus-Infektion durchgemacht hat, ist demnach immun – zunächst.

„Wie lange diese Immunität anhält und ob sie lebenslang bestehen bleibt, wissen wir bisher nicht“, erklärt der Professor. Es ist eine von vielen noch ungeklärten Fragen.

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  • Robert-Koch-Institut geht von etwa dreijähriger Immunität aus

    Das Robert-Koch-Institut (RKI) schreibt dazu: „Die Erfahrungen mit anderen Coronaviren-Infektionen (Sars und Mers) deuten darauf hin, dass die Immunität bis zu drei Jahre anhalten könnte.“ Die Experten sehen ein geringes Risiko für bereits Genesene, sich noch einmal zu infizieren.

    Auch die WHO und mehrere Experten weltweit haben sich inzwischen zu Wort gemeldet. Sie verweisen ebenfalls auf die Erfahrungen mit anderen Coronaviren und sind optimistisch, dass eine überstandene Infektion wenigstens zeitweise zu einer Immunität führen kann. „Es gibt derzeit keinen medizinisch dokumentierten Fall, in dem jemand ein zweites Mal an Covid-19 erkrankte“, erklärte etwa Immunologe Thomas Kamradt in einem Gespräch mit FOCUS Online.

    Auch er stützt sich auf die Erfahrungen aus der ersten Sars-Epidemie sowie mit Erkältungs-Coronaviren. Sie sprechen ihm zufolge sehr für eine Immunität, die wenigstens „ein paar Jahre“ anhalte. Während dieser Zeit habe Sars-CoV-2 auch keine Möglichkeit mehr, in den Körper der Person einzudringen: „Immun heißt: Ich bin geschützt und ich schütze die anderen.“

    Immun nach Corona-Schnupfen? Das wissen wir bislang über Kreuz-Immunitäten

    Ebenfalls immer häufiger in diesem Zusammenhang erwähnt werden sogenannte Kreuz-Immunitäten. Forscher um Andreas Thiel von der Berliner Charité haben kürzlich herausgefunden, dass Menschen, die nie mit Sars-CoV-2 in Berührung gekommen waren, eine Immunreaktion gegen das Virus aufweisen konnten.

    Die Wissenschaftler vermuten, dass hinter dieser Reaktion eine vorangegangene Infektion mit einem anderen Coronavirus stecken könnte, etwa bei einer Erkältung. Eine derartige Kreuz-Reaktivität sei nichts Ungewöhnliches – jedoch müsse nun erst einmal geklärt werden, ob sie gut oder schlecht für den Patienten ist.  

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    T-Zellen attackieren Sars-CoV-2, obwohl sie ihm nie ausgesetzt waren

    Forscher aus den USA kamen zu ähnlichen Erkenntnissen: In einer kürzlich im Wissenschaftsjournal „Cell“ veröffentlichten Studie untersuchten die Infektiologen Alessandro Sette und Shane Crotty vom kalifornischen La Jolla Institute for Immunology, wie T-Zellen aus Blutproben, die zwischen 2015 und 2018 genommen wurden – also vor der aktuellen Seuche – auf Sars-CoV-2 reagieren.

    Es stellte sich heraus, dass viele der Abwehrzellen den Erreger attackieren, obwohl sie ihm nie ausgesetzt waren. Es könnte sein, dass die betroffenen Personen an einer Erkältung gelitten haben, die von anderen, weniger aggressiven Coronaviren verursacht wurde, schlussfolgern die Studienautoren auch in dieser Untersuchung.

    Zwar sei unklar, ob die beobachtete Kreuzreaktion einen Immunschutz bringe, doch sie könnte erklären, warum Covid-19 manche Menschen härter trifft als andere. „Jeder Grad einer Immunisierung durch eine von anderen Coronaviren ausgelösten Kreuzreaktion kann den globalen Seuchenzug substanziell verändern“, betont Crotty. „Das können die Epidemiologen nun bei ihren Prognosen für den weiteren Verlauf der Pandemie berücksichtigen.“

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