Wie Geburtshilfe besser geht


„Wie soll ich es diesmal schaffen?“, fragte sich Antje Greif oft, bevor sie zur Arbeit ging. Die 44-Jährige arbeitet als Hebamme an einer Hamburger Klinik. Es ist noch nicht lange her, da schien ihr Job eine schier unlösbare Aufgabe.

Es waren einfach zu viele Schwangere, die sie gleichzeitig betreuen sollte. Sie hetzte von Frauen, die vorzeitige Wehen hatten, zu Frauen, denen die Fruchtblase geplatzt war. Parallel dazu bereitete sie andere Frauen auf den Kaiserschnitt vor. Sie, die eigentlich Ruhe ausstrahlen und den werdenden Müttern Sorgen und Furcht nehmen sollte, lebte in ständiger Angst: Angst, in der Eile etwas zu übersehen, einen Fehler zu machen.

Diese Tage waren irgendwann kein Einzelfall mehr, sondern der Normalfall. Die Überstunden häuften sich. Manchmal blieb Greif nicht einmal Zeit, um auf die Toilette zu gehen. Doch nicht nur sie war Leidtragende der Überlastung: Immer wieder musste sie Schwangere mit Wehen in ein anderes Krankenhaus schicken, weil auf ihrer Station Hebammen fehlten oder der Kreißsaal überfüllt war. „Wir hatten das Gefühl, den Patientinnen nicht mehr gerecht werden zu können“, sagt auch Greifs Kollegin Gesine Grabichler. Die beiden arbeiten seit mehr als 18 Jahren an der Asklepios-Klinik in Hamburg Altona (AKA).

Pro Jahr kommen hier mehr als 3000 Kinder zur Welt, Tendenz steigend. Warum sie nicht einfach das Krankenhaus gewechselt haben? Weil die Situation anderswo kaum besser gewesen wäre. Seit 1991 wurden 40 Prozent der Geburtsstationen in Deutschland geschlossen. Die verbliebenen Einrichtungen haben Probleme, die Lücke zu schließen – besonders, seitdem die Zahl der Geburten wieder steigt. (Mehr zur Versorgung von Schwangeren in Deutschland lesen Sie hier.)

Neugeborenes auf der Säuglingsstation

Nicht jammern, sondern verbessern

Grabichler und Greif sind Frauen, die nicht lange jammern, sondern anpacken. „Wasser?“, fragt Greif beim Treffen im Krankenhaus. Sie schnappt sich eine Karaffe, füllt sie mit Wasser aus dem Hahn, stülpt einen Stapel Gläser über die Öffnung. Schal, Jacke und Papiere klemmen gleichzeitig unter ihrem Arm. Greif wirkt nicht so, als bräuchte sie Hilfe, routiniert balanciert sie alles in ein Wehenzimmer. Durch das geöffnete Fenster dringt das Schreien einer werdenden Mutter in den Raum.

Als sich die Situation im Krankenhaus weiter verschlechterte, packten Greif und Grabichler auch diese Situation an. Gemeinsam mit ihren gut 30 Kolleginnen entschieden sie sich für einen ungewöhnlichen Schritt: Sie machten sich selbstständig und gründeten ihr eigenes Unternehmen, das Hebammenkontor Altona. Sie hatten schon einmal vor zehn Jahren darüber nachgedacht, dann aber die Risiken der Selbstständigkeit gescheut. Im Sommer 2017 trauten sie sich schließlich.

Vorbild München

Grabichler wusste von einer Kollegin, dass die Hebammen an der Münchner Rotkreuzklinik ebenfalls gemeinsam eine Firma gegründet hatten. Sie besuchte die Station, holte sich Tipps von den Kolleginnen dort und stellte das Konzept anschließend in Hamburg vor.

Es war nicht leicht, alle Hebammen und die Klinikleitung von der Idee zu überzeugen. Für die Frauen bedeutete der Schritt, einen unbefristeten Arbeitsvertrag mit festem Einkommen aufzugeben. Für die Klinik wurden aus Angestellten plötzlich Geschäftspartner, die sich selbst organisieren. Dadurch verschwand eine ganze Abteilung aus den Personalkosten, gleichzeitig verzichtet die Klinik seitdem bewusst auf einen Teil der Krankenkassenvergütung pro Geburt.

Trotzdem entschieden sich am Ende alle gemeinsam für das Hebammenkontor Altona. Dies ist nun fast zwei Jahre her. Das erste Fazit: Alle haben profitiert. Die Klinik hat eine funktionierende Geburtenstation, die Hebammen sind zufriedener mit ihrer Arbeitssituation, und die Patientinnen werden besser betreut.

Zwölf-Stunden-Schichten: toll!

Den Erfolg brachten ungewöhnliche Maßnahmen. Als Erstes stellten die Hebammen das Schichtsystem um. Statt acht Stunden am Stück arbeiten sie nun zwölf Stunden. „Das mag für Außenstehende anstrengender klingen, aber für uns ist das viel besser“, erklärt Grabichler. Vorher hat sie fast immer deutlich mehr als acht Stunden gearbeitet. Damals waren das Überstunden, nun ist die Arbeitszeit fest eingeplant.

Durch die Zwölf-Stunden-Schichten kann sie einzelne Geburten konstant begleiten, wo sie das Schichtende früher oft herausgerissen hat. Gleichzeitig muss sie seltener zur Arbeit kommen. „Was für mich heute zwei Dienste sind, bedeutete bei einem Achtstundentag drei Dienste“, rechnet Grabichler vor. Seit der Umstellung arbeitet sie mit einer vollen Stelle im Schnitt 146 Stunden im Monat, davor waren es deutlich mehr.

Das neue Schichtsystem hat auch die Versorgung verbessert. Anstelle von drei sind nun mindestens vier Hebammen gleichzeitig auf der Station, eine weitere kann zur Not hinzugerufen werden. Außerdem dürfen die Hebammen nur noch zwei Geburten parallel betreuen. Das schreiben die gesetzlichen Krankenkassen allen freiberuflichen Hebammen vor, damit sie nicht zu viele „Kundinnen“ gleichzeitig annehmen.

Der Schutzmechanismus wirkt auch in die andere Richtung. Als die Hebammen noch fest angestellt waren, galten diese Limits nicht. Dadurch entstand die alltägliche Belastung mit bis zu fünf Geburten parallel.

Wer nicht arbeitet, verdient auch nichts

„Seit wir selbstständig sind, sind wir auch seltener krank“, sagt Greif. Zum einen, weil sie sich ihre Dienste nun selbst einteilen können und dadurch zufriedener sind. Zum anderen bringt die Selbstständigkeit einen größeren Druck, gesund zu bleiben. Wer nicht arbeitet, verdient auch nichts. „Das ist ein großer Risikofaktor, der uns allen bewusst ist“, erklärt Greif.

Weil die Hebammen nun direkt mit den Krankenkassen abrechnen können, verdienen sie allerdings auch deutlich mehr. Wie hoch ihr monatliches Einkommen ist, wollen sie nicht sagen. Das hänge auch davon ab, wie viel eine Hebamme arbeitet.

Die neue Form der Zusammenarbeit bietet aber nicht nur Vorzüge, sondern auch Herausforderungen. Zum Beispiel zwischenmenschliche. Das Hebammenkontor Altona funktioniert basisdemokratisch. Über alle Entscheidungen wird abgestimmt, selbst über die Interviewanfrage vom SPIEGEL. Die Kommunikation läuft über Chats, die Abstimmung über Listen, auf denen alle gleichberechtigt wählen können.

Auch die Entscheidung, sich selbstständig zu machen, trafen die knapp 30 Frauen gemeinsam. Bei Streitereien vermitteln Mediatoren, die ebenfalls aus dem Team gewählt werden. „Diese Art der Zusammenarbeit kann schon mal nerven“, gibt Greif zu. „Doch langfristig überwiegt der Vorteil.“

Aber ist das Projekt der Weg zum Glück für alle Hebammen? Grabichler und Greif haben ihre Zweifel: „Die Freiberuflichkeit passt nicht zu jedem.“ Wer Sicherheit im Job sucht, sollte sich den Schritt genau überlegen. „Unser Modell kommt auch nur für größere Kliniken infrage.“ Erst in so einer Umgebung kann jede einzelne Hebamme ausreichend Geburten betreuen, um ihre Existenz zu sichern. Nur weil die Hebammen in Altona in einer großen Klinik arbeiten und ein großes Team sind, können sie sich wie ein Unternehmen im Unternehmen organisieren und die Arbeit aufteilen. Das entlastet jede einzelne. In kleinen Kliniken würde das Modell nicht funktionieren, sondern mehr Last entstehen.

„Beim Arzt gibt es so etwas nicht“

Und Belastungen entstehen durch die Selbstständigkeit durchaus, vor allem durch die Dokumentationspflicht. Jede noch so kleine Behandlung müssen sich die Hebammen von ihren Patientinnen quittieren lassen. Ein Fehler beim Datum reicht, schon verweigert die Krankenkasse die Zahlung. „Stellen Sie sich vor, beim Arzt müssten Sie jede Leistung gegenzeichnen, jede Blutentnahme, jedes Abtasten“, sagt Grabichler. „Beim Arzt gibt es so etwas nicht, aber bei uns schon.“

Greif und Grabichler bereuen trotzdem nicht, dass sie sich selbstständig gemacht haben. Sie können sich nun zum ersten Mal vorstellen, bis zur Rente als Hebammen zu arbeiten.

Zusammengefasst: Die Hebammen der Asklepios-Klinik in Hamburg-Altona haben sich vor fast zwei Jahren gemeinsam selbstständig gemacht. Seitdem sind sie nicht mehr Angestellte der Klinik, sondern Geschäftspartner. Die Arbeitssituation der Hebammen und die Versorgung von Schwangeren haben sich seitdem deutlich verbessert. Das Modell kommt allerdings nur für größere Kliniken infrage und ist auch nicht die Antwort auf alle Probleme der Geburtshelferinnen.

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