Die „katastrophalen Zustände“ in Deutschlands Kinderkliniken kommen nicht überraschend. Schon seit Jahren warnen Experten vor einer Überlastung. Wie konnte es dazu kommen und was muss passieren – kurzfristig sowie langfristig? Drei Experten geben Antworten.
„Kinder liegen auf dem Boden in der Notaufnahme“ oder „Jede zweite Klinik musste in den letzten 24 Stunden ein Kind abweisen“ – die dramatischen Nachrichten aus den Kinderkliniken reißen nicht ab. Auch der Blick auf die Zahlen ist alarmierend: Von 110 Kinderkliniken hatten zuletzt 43 kein Bett mehr auf der Normalstation frei. Und im ganzen Land gab es gerade einmal 83 freie Betten auf Kinderintensivstationen, also lediglich 0,75 pro Klinik. Das geht aus der jüngsten Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hervor.
Besonders bitter: Experten warnen seit Jahren vor dieser drohenden Überlastung – passiert ist nichts. Wir haben bei dreien nachgefragt, wie es dazu kommen konnte und was jetzt passieren muss.
Im Video oben: 3 Grafiken erklären die aktuelle Kinderklinik-Katastrophe
Notlage der Kinderkliniken kommt mit Ansage
Die Notlage der Kinderkliniken kommt mit Ansage, da sind sich Fachleute einig. Zwar trifft die derzeit hohe Erkältungswelle insbesondere die Kleinsten, aber sie trifft eben auch auf ein marodes System. Ein großer Kritikpunkt ist die sogenannte Fallpauschale, wonach Kliniken pro Patient und Diagnose einen festgelegten Betrag erhalten. Fixkosten, etwa das Bereitsstellen (Vorhalten) von Personal, Betten oder Medizintechnik muss dadurch mitgedeckt werden. Als Folge wird am Personal gespart, womit es weniger betreibbare Betten gibt. Da gerade die Kinderkliniken als nicht rentabel gelten (weniger Patienten, viel Zeit) wurden einige zudem ganz geschlossen.
Auch die Ausbildung des medizinischen Fachpersonals hat nachgelassen. Durch Einführung des Pflegeberufereformgesetzes gibt es keine spezifische Ausbildung mehr zur Kinderkrankenschwester beziehungsweise zum Kinderpfleger – sie ist einer generalistischen gewichen.
FOCUS online hat drei Experten gefragt: Was sind die Hauptursachen und inwiefern hat sich diese Notlage bereits angekündigt?
- Jörg Dötsch, Kinderarzt und Leiter der Kinderklinik der Universitätsklinik Köln: „In den letzten 20 bis 30 Jahren wurden hauptsächlich aufgrund des hohen betriebswirtschaftlichen Drucks auf die Kinder- und Jugendkliniken sehr viele Betten reduziert. Ein Faktor hierbei war die Schließung zahlreicher Kinderkliniken, sodass derzeit nur noch etwa 330 Kinderkliniken existieren. In den Jahren der Pandemie haben darüber hinaus viele Pflegekräfte den Kliniken den Rücken gekehrt und unter der ohnehin angespannten Situation in der Pädiatrie ist damit die Zahl der verfügbaren Betten weiter zurückgegangen. Schon vor Beginn des Winters waren die Kinderkliniken an ihrer Belastungsgrenze, insofern ist die aktuelle, nicht ungewöhnliche Infektwelle eine zu starke Belastung für die Kinderkliniken.“
- Jakob Maske, Kinder- und Jugendarzt sowie Bundespressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendmedizin: „Die Hauptursache ist das Einsparen von Personal, was gesundheitspolitisch über die letzten 20 Jahre zu einer Verminderung der Betten von 20 bis 25 Prozent geführt hat. Dazu kommt, dass die Medizin-Studienplatzanzahl nahezu um die Hälfte reduziert wurde, was bedeutet, dass es im ärztlichen Bereich auch nicht mehr ausreichend Nachfolge gibt. Aber auch im Bereich der Pflege fehlt es, weil es keine Ausbildung mehr zur Kinderkrankenpflegekraft gibt. Diese ist einer generalistischen Ausbildung gewichen, sodass nahezu deutschlandweit keine Kinderkrankenpflegeausbildung mehr stattfindet.“
- Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) nennt ebenfalls den „Abbau von Bettenkapazität seit den 90er Jahren“ als Grund. Die DGKJ habe bereits 2014 eine Öffentlichkeitskampagne gestartet mit dem Titel „Rettet die Kinderstation“. „Wir haben immer wieder auf die problematische Situation der fallzahlabhängigen Finanzierung ohne adäquate Berücksichtigung der Vorhaltekosten hingewiesen, sind aber nicht gehört worden.“ Und weiter: „Aktuell haben wir eine sehr hohe Krankheitsinzidenz bei RSV und Influenza im Kindesalter, beides kommt fast gleichzeitig und trifft auf mehrere Jahrgänge mehr oder weniger immunnaiver Kinder. Das trifft nun auf Kliniken, die in den letzten Jahren „verschlankt“ wurden inkl. Personalabbau, um das wirtschaftliche Überleben der Kliniken zu sichern. Zudem gibt es eine Reduktion der Ausbildungsstellen in der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege in Folge des Pflegeberufereformgesetzes, Absolventen mit päd. Vertiefung brauchen personalintensive Nachqualifikation, um das Niveau der Gesundheits- und Kinderkrankenpflege zu erreichen. Der hohe Krankenstand beim Personal verschärft das Problem.“
Was muss passieren – kurzfristig sowie langfristig?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat schnelle Hilfe zugesagt. So soll es für die Kinderkliniken 2023 und 2024 jeweils 300 Millionen Euro zusätzlich geben. Zur Sicherung von Geburtshilfestandorten sind es jeweils 120 Millionen Euro mehr. Auch soll Pflegepersonal aus Erwachsenen- in Kinderstationen verlegt und nicht dringend notwendige Behandlungen verschoben werden. Lauterbach forderte die Krankenkassen zudem auf, Vorgaben zur Personalbesetzung vorerst nicht zu prüfen und Sanktionen auszusetzen. Hintergrund ist, dass eine Behandlung bei Unterschreitung der Personalgrenze unter Umständen nicht finanziert wird.
Was sagen die Experten zu kurzfristigen Lösungsvorschlägen?
- Rodeck: „Der Appell von Minister Lauterbauch, Kinderkliniken aus der Erwachsenenpflege zu unterstützen, hilft gegebenenfalls in Einzelfällen, zur flächendeckenden Problemlösung taugt es nicht. Denn Erwachsenenpflege ist nicht kompetent in der Pflege von Säuglingen und Kleinkindern. Zusätzlich bleibt die Frage: Wo soll das Personal denn herkommen bei Pflegepersonalmangel auch in der Erwachsenpflege?“
Und weiter: „Die Pflegepersonaluntergrenzenverordnung sollte in der aktuellen Situation vom Bundesgesundheitsministerium ausgesetzt werden beziehungsweise nicht sanktionierbar gemacht werden. Auch hier reicht lediglich ein Appell an die Kostenträger (Krankenkassen) nicht.“
„Die Kinderkrankenpflege könnte man finanziell attraktiver machen analog des Pflegebonus wie bei Corona. Das muss allerdings so konzipiert sein, dass Teilzeitarbeitende animiert werden, aufzustocken oder ausgeschiedenes Personal wieder in den Dienst zurückkehrt.“ - Dötsch: „Kurzfristig ist es von entscheidender Bedeutung, den betriebswirtschaftlichen Druck auf die Kinderkliniken zu reduzieren. Dies ist in Teilen durch das von der Bundesregierung geplante Entlastungspaket möglich. Es ist allerdings noch nicht ausreichend, da es zunächst einmal nur den weiteren Bettenabbau verhindern soll. Parallel sind daher unbedingt weitere finanzielle Maßnahmen notwendig, die es erlauben, mehr Personal einzustellen, um den gemeinschaftlich arbeitenden Teams auf den Stationen bessere Arbeitsbedingungen zu ermöglichen, die auch zu einer Rückkehr von Pflegekräften in ihren Beruf führen.“
- Maske: „Kurzfristige Lösungen gibt es nicht. Man muss jetzt dafür sorgen, dass man das vorhandene Personal motiviert, weiterzuarbeiten und nicht in andere Berufe abzuwandern. Hier geht es vor allem um Wertschätzung und damit um eine angemessene Bezahlung. Dies gilt jedoch nicht nur für den klinischen, sondern auch für den ambulanten Bereich mit seinen medizinischen Fachangestellten und den niedergelassenen Kollegen.“
Lauterbach plant große Krankenhausreform
Langfristig plant Lauterbach eine umfassende Krankenhausreform. Eine Regierungskommission arbeitet seit Mai daran, kürzlich wurden die Ergebnisse präsentiert. Der wohl wichtigste Punkt ist, dass die Kliniken einen festen Betrag für Vorhaltekosten bekommen sollen, der in Zukunft 40 bis 60 Prozent der gesamten Finanzierung ausmachen soll. Der Rest soll weiter von der Fallpauschale abgedeckt werden. Die könne nicht ganz wegfallen, weil die Kosten im Gesundheitssystem ohne ökonomischen Druck explodieren würden, heißt es von der Kommission.
Welche langfristigen Veränderungen sind notwendig und was halten Sie von Lauterbachs Krankenhausreform?
- Maske: „Zunächst einmal ist es ein Weg in die richtige Richtung, mehr Mittel in die Kinder- und Jugendmedizin zu stecken. Ob die vom grünen Tisch gemachte Reform, die ohne die Expertise der in dem System Arbeitenden gemacht wurde, dann auch in die Praxis umsetzbar sind, bleibt abzuwarten.“
- Rodeck: „Langfristige Lösung: auskömmliche Sonderfinanzierung der Pädiatrie in der Krankenhausfinanzierungsreform mit garantiert 20 oder mehr Prozent des Erlösvolumens vor der Pandemie. Zusätzlich Berücksichtigung der Vorhaltekosten, die fallzahlunabhängig bedarfsorientiert erstattet werden müssen. Die duale Finanzierung seitens der Länder mit Erstattung der Investitionskosten muss endlich umgesetzt werden.“
- Dötsch, selbst Mitglied in der Regierungskommission sagt: „Langfristig ist es notwendig, für die Kinder- und Jugendmedizin insgesamt etwa 20 Prozent mehr aufzuwenden. Dies wären derzeit bei 3,7 Milliarden Euro in der konservativen und operativen Kinder- und Jugendmedizin 740 Millionen Euro. Verglichen zu den 686 Milliarden Euro, die der stationäre Bereich ansonsten kostet und den über 200 Milliarden Kosten für das gesamte Gesundheitssystem, ist dies ein relativ kleiner Anteil.“ Die angestrebte Finanzierung der Vorhaltekosten sei wichtig, insbesondere in der Kindermedizin. „Da wir im Sommer Personal vorhalten müssen, das im Winter gebraucht wird. Wir müssen auch Experten für seltene Krankheiten vorhalten und sehr viel mehr Zeit aufwenden, um Gespräche mit Kindern und ihren Eltern zu führen, als das in der Erwachsenenmedizin der Fall ist.“
Ob die Pläne fruchten, bleibt abzuwarten. Die Kommission selbst rechnet mit einer Übergangszeit von etwa fünf Jahren, bis die Reform vollständig in den Krankenhäusern eingeführt ist. Bislang handelt es sich zudem lediglich um Empfehlungen – sie müssen noch politisch entschieden werden.
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