Wer sich nicht an die Corona-Regeln hält, dem darf man auch die Polizei schicken

Mit den strengeren Corona-Regeln kommt auch wieder die moralische Frage auf: Sollte ich jemanden bei der Polizei anschwärzen, der sich nicht an die Beschränkungen hält? Der Autor dieses Textes findet, ja. Redakteurin Rebecca Baden sieht das ganz anders, ihre Gegenmeinung lesen Sie hier.

"Es kommt auf alle, auf jede und jeden Einzelnen an, auf unser aller Engagement, unsere Ausdauer, unsere Rücksichtnahme". Angela Merkels Appell in der jüngsten Regierungserklärung zum "Lockdown light" klingt wie ein mittlerweile Monate altes Mantra. Der Appell an die Eigenverantwortung von über 80 Millionen Bundesbürgern. Einen Versuch war es wert.

Es war aber auch irgendwie eine romantische Vorstellung: Wir bleiben alle ein paar Tage zuhause und besiegen Covid-19. Wirt gegen Virus. An einem Strang. Wir schaffen das.

Und so gerieten schnell die sogenannten Corona-Leugner und Grundgesetz schwingenden Maskenverweigerer ins Visier. Ein einfaches Feindbild: "Weil ihr jetzt nicht mitspielt, müssen wir bald alle zuhause bleiben". Das ist bequemer, als das eigene Verhalten zu hinterfragen.

Folgen der Krise

Das Virus macht nicht alle gleich – es macht genau das Gegenteil

Die Nachlässigkeit der anderen wurde zur eigenen 

Die Zahlen sanken, die Maßnahmen wurden gelockert, die Entscheidungen einem selbst überlassen. Es wurden wieder mehr Freunde getroffen, das Enkelkind wurde wieder bei den Großeltern abgegeben, die Abstände wurden geringer und die Maske im Auto vergessen. Andere spielten mit. Gruppendynamik. Aus einem Augenrollen gegen auf halbmast getragene Masken wurde schnell eine Einladung zur eigenen Nachlässigkeit.

Egal ob fehlende Routine oder Bequemlichkeit: Viele haben sich zu schnell ihren einst sichergeglaubten Privilegien hingegeben und dabei verdrängt, dass es auch diejenigen gibt, die auf das gemeinschaftliche Handeln angewiesen sind: Pflegepersonal, Supermarktmitarbeiter, Busfahrer, Kulturschaffende, Gastronomen. Wirksame Maßnahmen, wie Maske und Abstand, wirkten plötzlich zu einem identitätsstiftenden Kulturgut degradiert, das immer nur dann ausgepackt wird, wenn es um die Selbstdarstellung geht.

Wie viel Mitschuld dabei auch der Staat an Unverständnis, Frustration und Trotzverhalten in dem Teil der (gemein)wohlwollenden Bevölkerung getragen hat, wenn er einerseits an das Miteinander appelliert aber bis zum zweiten Lockdown braucht, um jene ernstzunehmend zu unterstützen, die gezwungenermaßen in ihren Tätigkeitsfeldern eingeschränkt wurden, sei dahingestellt. In einer auf Rücksicht angewiesenen Phase der Pandemie hingegen Partys zu feiern oder zum gemütlichen Umtrunk in großer Runde zu laden, trifft auf lange Sicht genau all jene am härtesten, die bereits am meisten unter der Krise leiden. Dieser Rattenschwanz scheint vielen nicht bewusst zu sein – oder schlimmer: sie ignorieren ihn.

Keine Einladung zum Denunzieren, aber …

Wenn die Kreisverwaltung Hildesheim nun eine eigene Mailadresse zur Meldung von Corona-Verstößen einrichtet, sollte das nicht als Einladung zum Denunzieren missverstanden werden. Wer hier aus langjähriger Antipathie den Nachbarn anschwärzt, der den Müll ohne Maske runterträgt oder gezielt nach Verstößen Ausschau hält, outet sich als antisozial. Wer aber jene meldet, die die goldenen Gesellschafts-Regeln in Zeiten einer Pandemie noch immer nicht verstanden haben, unternimmt viel eher einen letzten verzweifelten Versuch, diejenigen ins gemeinschaftliche Rettungsboot zu zwingen, die meinen, auf der potentiell tödlichen Welle auch noch surfen zu müssen. Den Vorwurf müssen sich all jene, die immer noch nicht mitspielen, einfach gefallen lassen.

Und mal ehrlich: Wer fühlte sich nicht schon mal bei dem Gedanken erwischt, die Polizei zu rufen, wenn die Nachbarn unter der Woche um zwei Uhr morgens die Party-Musik noch ein bisschen lauter drehten, während man selbst um jede Minute Schlaf kämpfte, weil sich die Zeit bis zum Wecker-Läuten immer weiter verkürzte? Der Anstand gebot es, stattdessen selbst zu klingeln und an das nachbarschaftliche Miteinander zu appellieren. Jetzt kann aber getrost davon ausgegangen werden, dass diese Werte nicht von den Feiernden geteilt werden. Das Miteinander, das Nachbarschaftliche gerät ja nicht erst dadurch ins Wanken, wenn ein vermeintlicher Hilfs-Sheriff die Polizei zur Party nebenan schickt. Es ist schon dann gekippt, wenn sich dafür entschieden wird, das Hedonistische vor das Gemeinschaftliche zu stellen und die Zusammenkunft überhaupt stattfinden zu lassen.

Und auch für Gastronomen und andere Unternehmer mit funktionierenden Hygienekonzepten könnte es eine Chance sein, schnellstmöglich wieder zu wirtschaften, wenn jene Gleichgesinnten, die es in der Vergangenheit mit den Maßnahmen zu locker gesehen haben, besser kontrolliert würden. Solche Hilfsmittel und Regeln sollten nur solange gelten, wie ein Großteil der Ansteckungsketten nicht (mehr) nachvollziehbar sind. Sie sind Teil dieser absoluten Ausnahmesituation. Die konsequente Alternative wäre das Abschirmen von Risikogruppen. Und dieser Umstand wäre mit genau jenen Adjektiven zu umschreiben, die sonst einer Petze vorbehalten sind: Unsozial und anstandslos.

Es ist völlig okay, die Polizei zu rufen

Es geht um das Gemeinwohl. Darum, das Ego hintenan zu stellen. Das ist hart. Das zehrt an den Kräften. Würden hier aber alle nur für kurze Zeit wirklich an dem häufig angeführten "gemeinsamen Strang" ziehen, müsste auch keiner den Buhmann spielen.

Wer trotzdem zunächst (auf Abstand) das argumentative Gespräch mit Partygängern und Maskenverweigerern sucht, hat Respekt verdient, wer direkt die Polizei ruft aber auch keine Verachtung – egal ob in Hildesheim, Hamburg oder Berlin.

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