Dieser Beitrag erschien zuerst bei ntv.de.
Die Lage zu Geschlechtskrankheiten sei "außer Kontrolle", zitiert der britische "Guardian" Gesundheitsexperten aus den USA. Die Syphilis-Neuinfektionen im letzten Jahr haben mit über 52.000 Fällen den höchsten Stand seit 1948 erreicht und auch die HIV-Fälle seien sprunghaft um 16 Prozent zum Vorjahr angestiegen. Auch die "Japan Times" berichtet vom höchsten Syphilis-Stand seit Beginn der Aufzeichnungen in Japan. Die bakterielle Syphilis kann zunächst zu Ausschlägen und Wunden führen, im weiteren Stadium unbehandelt sogar tödlich sein. Erste Warnsignale auch für Deutschland?
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"Wir sehen insgesamt einen Trend von zunehmenden Geschlechtskrankheiten", sagt Norbert Brockmeyer, Präsident der Deutschen STI-Gesellschaft, gegenüber ntv.de. "Nicht nur bei der Syphilis, sondern insbesondere auch bei Chlamydien, Gonokokken und Mycoplasma genitalium. All diese Infektionen werden durch Bakterien verursacht, wobei gegen die letzten beiden kaum noch Antibiotika wirken." Die genaue Infektionslage sei unklar, weil das Robert-Koch-Institut (RKI) bundesweit nicht alle Geschlechtskrankheiten überwacht. Brockmeyer bezieht sich vielmehr auf inoffizielle Zahlen aus lokalen Gesundheitszentren – beispielsweise im Ruhrgebiet und in Berlin.
Seit den 2000ern steigen die Zahlen der Infektionen mit Geschlechtskrankheiten aber jedes Jahr. Brockmeyer führt dies unter anderem auf die erleichterte Partnersuche durch das Internet zurück. "Immer wenn eine neue Technologie kam, gerade auch beim Online-Dating, sind die Sexualkontakte und die sexuell übertragbarer Infektionen gestiegen." Welchen Effekt Corona diesbezüglich hat, konnte der Experte in einer Studie zeigen. Während der Pandemie waren die sexuellen Kontakte zwar geringer. Weil die Menschen aber in kleineren Netzwerken Sex hatten, traten dort wiederum vermehrt Geschlechtskrankheiten auf. Der Experte geht davon aus, dass bisher unentdeckte Erkrankungen jetzt in die Statistiken einfließen werden. Außerdem gebe es einen Nachholbedarf nach der Pandemie. Mehr sexuelle Freizügigkeit führe dann auch zu mehr Infektionen durch Geschlechtskrankheiten, so Brockmeyer.
Bei Syphilis seien wir in etwa da, wo wir vor der Pandemie waren
Die Ärztin Anja Potthoff ist zurückhaltender und will sich ausschließlich auf offizielle Zahlen berufen. Sie leitet das Zentrum für sexuelle Gesundheit und Medizin in Bochum. Das RKI gibt an, dass sich in der ersten Hälfte dieses Jahres 4334 Menschen mit Syphilis angesteckt haben, im Vergleich zu 3854 in der ersten Hälfte des Vorjahres. "Damit sind wir in etwa da, wo wir vor der Pandemie waren", so Potthoff. Auch sie sehe, ähnlich wie Brockmeyer, nicht gemeldete Infektionen und Nachholeffekte als mögliche Einflussfaktoren.
Potthoff führt steigende Zahlen aber auch darauf zurück, dass mehr getestet wird – vor allem dank der sogenannten Prä-Expositions-Prophylaxe (PrEP). Die PrEP ist eine Pille, die bei korrekter Einnahme vor einer HIV-Infektion beim Sex ohne Kondom schützt. Seit zwei Jahren übernehmen gesetzliche Krankenkassen dafür die Kosten für Menschen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko. Zusätzlich testen die verschreibenden Ärzte diese Personengruppe alle drei Monate generell auf Geschlechtskrankheiten. Das RKI zählte zuletzt über 15.000 PrEP-Nutzende – überwiegend unter 45 Jahre alt und fast ausschließlich männlich.
Obwohl die HIV-Neuinfektionen bis vor der Pandemie stagnierten, kritisiert Potthoff einen zu sorglosen Umgang mit anderen sexuell übertragbaren Infektionen: "Die Wahrnehmung von HIV in der Öffentlichkeit hat sich durch die bessere Behandlung und neue Schutzmöglichkeiten zum Beispiel mittels PrEP geändert. Weiterhin werden andere Geschlechtskrankheiten oft als nicht so ernste Erkrankung angesehen."
Junge Menschen würden weniger die Pille und mehr das Kondom nehmen
Zwar würden sich junge Erwachsene am häufigsten anstecken, das Sexualverhalten der noch jüngeren Teenager entspreche aber nicht dem Klischee, so die Ärztin. "Man denkt, der Sex käme immer früher und alles wäre freier. Aber das Gegenteil ist der Fall. Immer weniger Jugendliche haben den ersten Sexualkontakt vor dem 17. Lebensjahr. Außerdem nehmen jungen Menschen weniger die Pille und mehr das Kondom."
Potthoff und Brockmeyer fordern unabhängig voneinander eine flächendeckende und niedrigschwellige Testung auf Geschlechtskrankheiten – nach Möglichkeit kostenlos. Unter sexuell sehr aktiven Männern haben 42 Prozent noch nie einen Test gemacht, wie eine aktuelle Studie der Onlineplattformen Mysummer und Cheex ergeben hat. Bei den Frauen sind es 23 Prozent. Aus Scham würden sich zwei Drittel der Befragten lieber selber zu Hause testen, als zu einem Arzt oder einer Ärztin zu gehen. Dabei hält Brockmeyer einen Test auf Geschlechtskrankheiten nach etwa jedem vierten neuen Sexualkontakt für sinnvoll.
Von Syphilis Rückschlüsse auf das weitere Infektionsgeschehen ziehen
Der Gesundheitsexperte erklärt, das RKI habe die Syphilis als Marker-Infektion für bakterielle Geschlechtskrankheiten ausgewählt, um Rückschlüsse auf das weitere Infektionsgeschehen zu ziehen. "Wir müssen aber auch wissen, wie oft und wo andere Geschlechtskrankheiten – insbesondere Chlamydien und Gonokokken – auftreten, um dann entsprechend reagieren zu können".
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Häufig seien junge Frauen und Männer betroffen und müssten daher besonders früh aufgeklärt werden – möglichst schon ab dem 9. Lebensjahr, so Brockmeyer. Ein frühes Heranführen an das Thema Sexualität sei nicht problematisch. "Jugendliche haben früh Zugang zu Pornos und sexuellen Angeboten, das sehen wir jetzt schon. Aber durch Aufklärung können sie sich diesem Druck leichter entziehen. Und selbstbewusst und bewusst mit ihrer Sexualität umgehen."
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