Wer kann das Problem der Arzneimittelengpässe kurzfristig lösen? Wie es scheint, niemand – zumindest nicht ohne an anderer Stelle neue Probleme zu verursachen. Wie steht es also um die Arzneimittelversorgung im kommenden Herbst und Winter? Wird es wie im letzten Jahr? Drei Expert:innen zeichnen ein eher düsteres Zukunftsszenario.
Bereits im Mai dieses Jahres diskutierten Ulrike Holzgrabe, Seniorprofessorin für pharmazeutische und medizinische Chemie, Dr. Torsten Hoppe-Tichy, Leiter der Apotheke des Universitätsklinikums in Heidelberg, und David Francas, Professor für Daten- und Lieferkettenanalyse an der Hochschule Worms, bei einem Presse-Briefing des „Science Media Center“ (SMC) online darüber, wie eine bessere Versorgung mit Arzneimitteln gelingen kann. Dies geschah noch bevor das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) im August in Kraft getreten ist. Das Gesetz war bereits im Vorfeld viel kritisiert worden. Die drei Expert:innen waren sich beispielsweise im Mai einig, dass man das Lieferengpassproblem nicht auf nationaler Ebene lösen kann [1].
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Nun ist das nationale Engpassgesetz seit kurzem in Kraft und erneut öffentlicher Kritik ausgesetzt. Denn – da das Gesetz Zeit brauche, um zu wirken – bat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) den pharmazeutischen Großhandel Ende August darum, kurzfristig bereits jetzt wichtige Kinderarzneimittel zu bevorraten – um einer Situation wie im vergangenen Winter vorzubeugen. Daraufhin stellte der Großhandelsverband Phagro kurzerhand klar: Wo nichts zu beschaffen ist, kann auch nichts für zwei oder gar vier Wochen bevorratet werden. Schon die aktuelle Situation sei „äußerst prekär“, hieß es [2,3].
Das SMC hat jetzt erneut Holzgrabe, Hoppe-Tichy und Francas um eine Einschätzung der aktuellen Situation gebeten. Ist es tatsächlich schon jetzt so schlecht um die Arzneimittelversorgung bestellt?
Hersteller müssen die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostizieren
Francas meint, es sei grundsätzlich positiv zu bewerten, dass mit dem ALBVVG erstmals ein Gesetz zur Bekämpfung von Lieferengpässen verabschiedet wurde. Absehbar sei aber, „dass die Lösung der Lieferengpassproblematik über das Gesetz hinaus gehende Anstrengungen wie den Einbezug weiterer Arzneimittelgruppen und die engere Kooperation mit den europäischen Partnern benötigen wird“. Die Versorgungslage im Winter 2023 werde nun auch davon abhängig sein, „inwieweit die Hersteller die Bedarfe an Arzneimitteln treffend prognostiziert haben und ihre Produktion und Lagerhaltung danach ausrichten konnten“. Zur Erinnerung: Im letzten Winter war eine Ursache der Lieferengpässe auch das erhöhte Infektionsgeschehen nach den Corona-Jahren. Zudem warnt Francas vor „inflationierten“ Bestellungen von Arzneimitteln, die über den benötigen Bedarf hinausgehen.
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Auch Hoppe-Tichy hat grundsätzlich lobende Worte für die kurzfristigen Maßnahmen Lauterbachs übrig, beschreibt die Umsetzung der neuen Regeln aber ebenso als schwierig. So stelle die schiere Menge der nun geforderten Vorräte allein räumlich Herausforderungen für die Krankenhausapotheken dar: „Einige Klinikapotheken haben für diese zusätzlichen Lagerflächen schon externe Räume oder gar Gebäude angemietet“, erklärt er. Es brauche deshalb auch ausreichende Vorräte bei den Herstellern und dem Großhandel.
Holzgrabe: Arzneimittelproduktion weltweit bereits am Anschlag
Ist also die Pharmaindustrie (mit ihrer Bedarfsplanung) in der Pflicht? Holzgrabes Ausführungen zufolge ist die Arzneimittelproduktion weltweit bereits am Anschlag. Um die geforderte Lagerhaltung zu erfüllen, sei es somit keine Lösung, anderen Ländern die Ware „vor der Nase wegzuschnappen“. Insbesondere die Forderung Lauterbachs an den Großhandel, größere Lagerhaltung aufzubauen, kann Holzgrabe nicht nachvollziehen: Dieser produziere ja nichts und kaufe im Wesentlichen auch nicht im Ausland ein. „Statt mit den Grundversorgern, den Generikaherstellern, wenigstens mal zu sprechen“, versuche Lauterbach den Markt leerzukaufen. Holzgrabe fürchtet einen „Verdrängungswettbewerb“, denn auch im restlichen Europa benötige man die knappen Arzneimittel.
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Eine wissenschaftliche Initiative der Julius-Maximilians-Universität Würzburg untersucht neuerdings unter dem Namen EThICS-EU-Programm (Essential Therapeutics Initiative for Chemicals Sourcing for the European Union) Maßnahmen, welche die Arzneimittelversorgung in Europa langfristig sichern könnten. Holzgrabe ist Teil dieser Initiative und erläutert dazu aktuell: „Zur Gewährung der Versorgungssicherheit müssen langfristig wieder mehr Produktionsstätten aufgebaut werden, und zwar insbesondere in Europa, obgleich eine Produktion in Europa durchaus 20 bis 30 Prozent teurer sein wird, wie wir in unserem EThiCS-Projekt für Amoxicillin berechnet haben.“ Wie schnell sich das lohne, sehe man an einem aktuellen Beispiel:
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