“Ich habe Depressionen“ – ein Satz, der auch heutzutage kaum jemandem leicht über die Lippen kommt. Trotz zunehmender Aufklärung in der breiten Masse sind psychische Krankheiten nach wie vor mit vielen Stigmata verbunden.
Es ist eben deutlich einfacher, ein gebrochenes Bein zu erklären als auf ein für andere Leute unsichtbares Leiden zu verweisen. Dabei gelten laut einer epidemiologischen Studie allein in Deutschland 18 Millionen Menschen als psychisch erkrankt.
Um das Ganze einmal einzuordnen: Innerhalb eines Jahres leidet demnach rein zahlentechnisch jede:r Einwohner:in Nordrhein-Westfalens an einer psychischen Krankheit. Dementsprechend stünde dann auch ein ganzes Bundesland vor der Frage: Wie gehe ich mit meiner psychischen Erkrankung um? Oft entscheiden sich Betroffene aus Scham und Angst vor Ausgrenzung dafür, das Ganze mit sich selbst auszumachen.
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Vorurteile über psychische Krankheiten
Professor Nicolas Rüsch, Oberarzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg, hat das Buch “Das Stigma psychischer Erkrankung“ geschrieben. Im Gespräch mit “Psychologie Heute“ erklärt er die Misere von psychisch Erkrankten so: “Betroffene können ihren sozialen Status einbüßen und nicht mehr für voll genommen werden. Sie werden abgestempelt und dadurch oftmals als anders wahrgenommen und behandelt.“
Laut einer Studie der Universität Wien haben vor allem Menschen mit komplexen Krankheitsbildern wie Schizophrenie mit Stigmata zu kämpfen. Das Forschungsteam hat Betroffene in 27 Ländern zu ihren Diskriminierungserfahrungen befragt.
Das Ergebnis: Ganze 47 Prozent der Teilnehmenden haben im Freundeskreis Diskriminierung erlebt, 27 Prozent im Arbeitskontext. So ist es kaum verwunderlich, dass 72 Prozent der Befragten ihre Diagnose aus Angst und Scham verheimlichten.
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Stigmata erschweren Betroffenen damit das Leben zusätzlich und sorgen nicht selten dafür, dass der Krankheitsverlauf zum negativen beeinflusst wird. Denn: Es kann unheimlich helfen, sich anderen mitzuteilen.
Bis unsere Gesellschaft frei von Vorurteilen ist, könnte es noch eine ganze Weile dauern – wenn das überhaupt möglich ist. Zum Glück gibt es Möglichkeiten, wie psychisch Erkrankte die Scham, die durch die gesellschaftlichen Stigmata entsteht, zu überwinden.
Studie: Das hilft gegen verinnerlichte Scham
Aber was hilft gegen die sogenannte internalisierte – also verinnerlichte – Scham? Diese Frage hat sich auch ein Forschungsteam der australischen Macquarie Universität in Sydney gestellt.
Also hat die Arbeitsgruppe um Professorin Susanne Norder alle bisher erschienene Studien zu dem Thema zusammengefasst, 16 an der Zahl. In jeder der Forschungsarbeiten ging es um Behandlungsmöglichkeiten für das Schamempfinden von Menschen mit psychischen Krankheiten.
Die gewählten Ansätze waren allerdings sehr unterschiedlich. Von zwei bis 16 Sitzungen, von Einzel- bis Gruppentherapie und von Kunsttherapie bis zu Akzeptanztherapie war alles dabei. In der Zusammenfassung aller Ergebnisse konnten die australischen Forscher nun die erfolgreichsten Methoden ausarbeiten.
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Ganz vorne liegt dabei die Commitment-Therapie, bei der es vor allem um einen achtsamen und wertfreien Umgang mit der Scham geht. Aber auch Übungen zur Steigerung des Selbstmitgefühls, Aufklärung über die Entstehung von Scham und kreative Therapieansätze haben demnach Wirkung gezeigt.
Insgesamt waren die Effekte allerdings nur “klein bis mittel“. Zusätzlich braucht es nach Ansicht der Wissenschaftler deshalb noch weitere Behandlungsstrategien, die sich “auf Erkenntnisse der Emotionspsychologie zur Entstehung von Scham“ beziehen.
Warum schämen wir uns eigentlich?
Die Erkenntnisse aus Australien zeigen, dass wir Scham nicht hilflos ausgeliefert sind. Das sind gute Nachrichten für uns alle, denn Scham ist ein Gefühl, das nicht nur Menschen mit psychischen Krankheiten betrifft. Wer kennt sie nicht, die Schamesröte, die einem ins Gesicht steigt, wenn einem etwas Peinliches passiert oder man in ein verbales Fettnäpfchen tritt.
Grundsätzlich schämen wir uns dann, wenn wir etwas erleben, das wir als gesellschaftlich nicht akzeptiert betrachten. Das unangenehme Gefühl, vor versammelter Mannschaft bloßgestellt zu sein entsteht dann, wenn etwas an unserer Intimsphäre nagt. Die Folge: Wir machen uns klein, körperlich wie mental, und würden sprichwörtlich am liebsten im Erdboden versinken.
Warum Scham auch was Gutes ist
Eine Reaktion, die erstmal nichts Negatives ist – und uns im Zweifel sogar nahbarer macht. Das jedenfalls hat Psychologe Matthew Feinberg von der University of California in Berkeley in einer Studie herausgefunden. Demnach wirken Menschen, die offensichtlich Scham empfinden als vertrauenswürdiger, sympathischer und großzügiger wahrgenommen.
Abgesehen davon hat Scham auch einen Sinn für uns selbst: Sie zeigt uns die Grenzen unserer Intimität auf und sorgt dafür, dass wir die Grenzen anderer nicht leichtfertig überschreiten.
Problematisch wird das Ganze dann, wenn Scham chronisch wird – wie es bei vielen Menschen mit psychischen Erkrankungen der Fall ist. Betroffene haben dann konstant das Gefühl, nicht gut genug zu sein und den Erwartungen der Gesellschaft nicht gerecht werden zu können. Nicht umsonst gibt es Menschen, die sich schämen, weil sie dem gängigen Schönheitsideal nicht entsprechen.
Manchmal geht das Ganze so weit, dass die Scham sich wie ein dunkler Schatten über das eigene Leben legt und uns daran hindert, unserem normalen Alltag nachzugehen. In diesem Zusammenhang taucht auch häufig eine verstärkte Neigung zu Schuldgefühlen auf. Vor allem für Menschen mit psychischen Erkrankungen geht das mit einem hohen Leidensdruck einher. Aber auch für alle anderen gilt: Scham kann belastend sein.
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Scham überwinden, geht das?
Wer häufig an Schamgefühlen leidet, der kann sich zunächst fragen, was genau die Ursache für die Scham ist. Oft nehmen wir das unschöne Gefühl einfach so hin und passen unser Verhalten direkt an. Es kann helfen, sich zu fragen, ob die schambesetzte Situation rational betrachtet wirklich so schlimm ist, wie es sich anfühlt oder ob wir die gleiche Situation bei einem guten Freund anders bewertet hätten. Meistens gehen wir nur mit uns selbst so hart ins Gericht.
Es kann außerdem helfen, sich das Worst-Case-Szenario auszumalen. Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Meistens malen wir uns unrealistische Szenarien aus, die dann Schamgefühle in uns hervorrufen. Dabei ist die Realität meist nicht im Ansatz so beängstigend.
Ein weiterer Tipp gegen Schamgefühle: Akzeptieren Sie Ihre Ecken und Kanten. Ja, das ist leichter gesagt als getan. Aber es ist doch so: Jeder von uns hat Macken und jeder von uns hat sich schon Mal bis aufs Blut blamiert. Wenn Ihnen also das nächste Mal etwas Unangenehmes passiert, einfach lächeln und weitermachen!
Zugegeben, der Tipp hilft Menschen mit psychischen Erkrankungen nur bedingt weiter. Wer sich mit gesellschaftlichen Vorurteilen auseinandersetzen muss, der erlebt oftmals eine sehr intensive Form der Scham. Denn oft haben Betroffene die Stigmata selbst verinnerlicht, bevor sie selbst erkranken. Aber auch hier kann es helfen, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Wem das gelingt, der schämt sich irgendwann auch nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sagen: “Ich habe Depressionen.“
Quelle: Studie der australischen Macquarie Universität in Sydney, Studie der Universität Wien, Interview mit Nicolas Rüsch in "Psychologie Heute".
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