Das Gewitter im Kopf – wie mich ein epileptischer Anfall das Fürchten lehrte

Drei Jahre ist es her, dass mich mein eigenes Gehirn zu Fall brachte. Ich hatte frei, die Sonne schien, meine Freunde plauderten Unsinn, es gab viel zu lachen – alles war gut. Dann kippte mein Nachmittag in Schieflage. Mein Gesicht fühlte sich blockiert an, ein Rauschen strömte in den Kopf, ich sah Buchstaben und Zahlen flackern. Ich weiß noch, dass ich dachte, das ist ein Schlaganfall. "Tina, alles gut?", hörte ich aus der Ferne. Dann war ich weg. Meine Freunde sagen, es hätte ausgesehen, als würde ich gähnen und den Mund nicht mehr zubekommen. Sie erzählen von Schaum vor dem Mund und davon, dass mein Körper ein einziger Krampf gewesen sei.

Als ich Minuten später wieder zu mir kam, lag ich auf dem Gehsteig, umringt von Menschen. Ich hatte mir auf die Zunge gebissen, fühlte mich wie falsch zusammengebaut und wollte nach Hause – bloß schnell weg, bloß kein weiteres Aufsehen. Die Notärzte und meine Freunde, die mit bleichen Gesichtern auf mich einredeten, sahen das anders. Ich hatte einen epileptischen Anfall gehabt, meinen ersten, und meine Freunde einen Schock. 

Körper, was soll das?

Ein epileptischer Anfall wird gern als Gewitter im Kopf bezeichnet. Tatsächlich beruht ein solcher Anfall auf "einer plötzlichen, abnormen Erregungssteigerung von Hirngewebe", wie Professor Bernhard Steinhoff, Ärztlicher Direktor des Epilepsiezentrums Kork mir erklärt. Ganz platt heruntergebrochen also eine Art elektrische Explosion im Hirn.

Manchmal ist so ein Anfall binnen Sekunden vorüber und so unmerklich, dass der Mensch ihn überhaupt nicht wahrnimmt, in anderen Fällen dauert er Minuten und führt zur Bewusstlosigkeit, im schlimmsten Fall zum Tod. Ursachen für epileptische Anfälle sind vielfältig. "Das können beispielsweise Entzündungserkrankungen des Hirns sein, das können Hirntumore sein oder auch eine Anlagestörung der Architektur des Gehirns", so Steinhoff. Was aber genau einen epileptischen Anfall zündet, ist noch immer nicht wirklich bekannt.

Schulterzucken – Ursache unklar

Sieben Tage lang hatte ich in der neurologischen Abteilung des Krankenhauses die Flecken an der Decke gezählt. Man hatte mir den Kopf verkabelt, mich in die Röhre geschoben, Blut ins Labor geschickt, Nervenwasser entnommen und mich Dutzende Male gefragt, ob ich Drogen genommen habe. Davon abgesehen, ging es mir in dieser Zeit ziemlich gut. Ich hatte Muskelkater und ich war ein wenig verballert, wie man es manchmal nach einer durchzechten Nacht ist. Ansonsten hatte ich nicht das Gefühl, sonderlich krank zu sein.

Wenn man einmal so einen Anfall hatte und beim Aufwachen in die sorgenvollen Augen von Liebenden geblickt hat, will man trotzdem wissen, ob das wieder passieren kann und unter welchen Voraussetzungen. Man möchte wissen, was einem der Körper damit sagen wollte. Und man will wissen, ob man beim nächsten Date einen Helm tragen muss. Ich aber sah nach vielen Untersuchungen nur zuckende Schultern. Meine Frage nach dem "Warum?" blieb unbeantwortet. Man schickte mich nach Hause, verbot mir sechs Monate Auto zu fahren und empfahl eine ambulante Verlaufskontrolle – das war’s.

Epilepsie – ja, nein, vielleicht

Niemand hat sich je die Mühe gemacht, zu erklären, was genau in diesem Moment in meinem Gehirn geschehen ist. Niemand hat mir je erklärt, warum welche Untersuchung notwendig ist und was welche Funde oder Nicht-Funde bedeuten. Niemand hat mir je gesagt, ob es wieder passieren kann. Und niemand hat mir gesagt, ob ich weitere Maßnahmen ergreifen muss. Es war alles eine einzige Auslassung.

Im Entlassungsbericht ist von einem "ersten unprovozierten, rechtshirnig fokal-eingeleiteten, sekundär generalisierten, epileptischen Anfall" die Rede. Und weiter: Neurologisch unauffällig, kein Hinweis auf eine strukturelle Läsion, unauffällige Zellzahl, unauffälliges EEG. Im vorläufigen Arztbrief des Krankenhauses steht der Passus "Hinweise für eine Epilepsie ergaben sich hier nicht". Ein Satz, der in der endgültigen Version gestrichen wurde. Was denn nun? Ich googelte verschiedene Vokabeln aus dem Bericht und war schockiert. 

Nachwehen und Kopfzerbrechen

In den folgenden Wochen musste ich etwas erleben, was mir zuvor ziemlich unbekannt war: Angst. Was, wenn ich das nächste Mal allein bin? Wenn ich in der Wohnung umfalle und mir den Schädel breche? Mir schossen Berichte von Menschen in den Kopf, deren Tod wochenlang unentdeckt bleibt. Ich hatte Angst allein rauszugehen, wurde empfindlich. Plötzlich strengten mich grelles Licht, Lautstärke, Menschenmassen an. Ums Fahrrad machte ich einen Bogen. Ich hatte das Vertrauen in meinen Körper verloren, ich fühlte mich von ihm hintergangen.

Das kam nicht einfach so. Denn der Katerkopf, mit dem ich in den ersten Tagen nach dem Anfall kämpfte, ging nicht mehr weg. Mein Gehirn fühlte sich geschwollen an, als wäre es zu groß für den Kopf und drücke von innen an den Schädel. Und gleichzeitig war der Kopf leer. Ich konnte mich nicht konzentrieren, mein Kurzzeitgedächtnis schien außer Gefecht. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie man Orange schreibt und hatte Probleme Sätze zu Ende zu sprechen – ich vergaß schlicht, was ich sagen wollte. Ich war eine einzige laufende Fehlermeldung.

Ich arbeitete, aber war eigentlich arbeitsunfähig. Ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sollte helfen. Der redete ziemlich viel, aber wenig Aufschlussreiches.

"Mal ehrlich, haben Sie Drogen konsumiert?"
– Nein, aber ich schlafe schlecht.
"Aha."
– Kann es sein, dass mein Gehirn überfordert ist, denke ich zu viel?
"Ihr Körper hat da einfach mal keine Lust mehr gehabt. Stress, vielleicht?"
– Aber ich bin langsamer geworden, habe Probleme mit dem Denken.
"Kann nicht sein. Versuchen Sie es mit einem steten Lebenswandel. Gehen Sie früh schlafen, trinken Sie keinen Alkohol, halten Sie sich von Stressfaktoren fern."

Das Ende vom Rock’n’Roll?

Für mich war das eine Hilft-gegen-alles-Antwort. Ein ärztlicher Rat, der nach dem Gießkannen-Prinzip gegeben werden kann, ohne groß Schaden anzurichten. Willkürlich kam er mir vor, wie eine Besänftigung, wo andere Ideen gerade Mangelware sind. Aber auch Bernhard Steinhoff, Experte der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, spricht davon, dass sich der Körper nach einem epileptischen Anfall in der Regel binnen Stunden erholt. Und auch der klassische Muskelkater vergehe schnell.

Er sagt: "Das Gehirn kann unheimlich viel wegstecken. Wenn Anfälle im Hirn überhaupt Schäden hinterlassen, dann minimale. Das ist zu vernachlässigen." Bildete ich mir das alles nur ein?  "So etwas kann schon traumatisch sein", erklärte mein Hausarzt später. Vielleicht, meinte er vorsichtig, würde ich zu viel hineinlesen.

Manchmal geht man aus dem Haus und tritt beim ersten Schritt in einen Hundehaufen. Man versucht die Scheiße so gut es geht schnell aus dem Profil zu streifen, sie ist zäh und stinkt, aber das geht vorüber. Dann setzt man seinen Weg fort. So habe ich es auch mit diesem Anfall gehalten. Nachdem mir keiner sagen konnte, was ihn ausgelöst hat, beschloss ich, dass er nicht das Ende vom Rock’n’Roll einläuten sollte. Mein Leben, lange Nächte, Whisky, Konzerte wollte ich mir nicht verbieten lassen.

Alles wieder gut?

Ich weiß, dass ich es mir damit ziemlich einfach mache. Denn es kann wieder passieren, auch nach Jahren noch. Laut Definition gilt eine Epilepsie als überwunden, wenn sich mindestens zehn Jahre lang kein neuer Anfall ereignete und man in mindestens fünf davon keine Antiepileptika genommen hat. Offiziell hatte ich nie eine Epilepsie und die Zeit spielt mir zudem in die Karten. Inzwischen ist mein Risiko erneut einen Anfall zu erleiden genauso hoch wie bei jedem Gesunden, sagen Experten..

"Your head will collapse. But there's nothing in it. And you'll ask yourself. Where is my mind?", singt die Band Pixies. Auch ich habe mich oft gefragt, ob ich noch bei Sinnen bin. Die Angst hat Widerhaken, immer wieder blitzt sie durch. Immer dann, wenn sich mein Gesicht seltsam anfühlt, denke ich, das könnte eine Aura sein, ein Vorbote auf den nächsten Anfall. Aber Verdrängung kann viel und das Warten im "Was wäre, wenn"- Konjunktiv ist keine Option. Epilepsie oder nicht, das ist für mich keine Frage mehr.

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