70 Prozent mehr Impfnebenwirkungen? Forscher kritisiert Daten als „unseriös“

Impfnebenwirkungen werden zu wenig erfasst – das sagt Harald Matthes. Der Mediziner leitet eine große Studie an der Berliner Charité hierzu. Die hat ihre Mängel, kritisieren andere Fachleute. Die zentralen Probleme der Studie zu Impfnebenwirkungen.

Ein medizinischer Grundsatz lautet: Es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Dass Karl Lauterbach die Covid-Impfung einmal als „nebenwirkungsfrei“ beworben hat, fliegt ihm nun vor allem in den sozialen Medien um die Ohren. Denn die Impfstoffe in Deutschland sind sicher und ihr Nutzen überwiegt die Risiken – sonst hätte sie das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) gar nicht erst zugelassen. Aber sie haben Nebenwirkungen. Wie häufig diese auftreten, darüber gibt es gerade große Diskussionen.

Harald Matthes leitet an der Berliner Charité die sogenannte „ImpfSurv“-Studie, um die Häufigkeit und Schwere genau diese Impfnebenwirkungen zu untersuchen. Sein bisheriges Fazit: Es existieren mehr als bekannt sind.

Unterschätzen wir die Zahl der Impfnebenwirkungen?

Der ärztliche Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe und Stiftungsprofessor am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin geht von einer Untererfassung von mindestens 70 Prozent aus. Seine Einschätzung beruht auf eigenen Daten wie auf Vergleichen mit anderen Ländern wie Schweden und Israel, die Impfregister führen. FOCUS Online hat mit dem Mediziner ausführlich über seine Forschung gesprochen.

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Auch der MDR hat in verschiedenen Beiträgen wiederholt Betroffene zu Wort kommen lassen. Dort nennt Matthes die Zahl, dass acht von 1000 geimpften Personen unter schweren Nebenwirkungen leiden würden, also 0,8 Prozent. Fachleute kritisieren seine Studie jetzt in mehreren Punkten.

Problem 1: Die Wortwahl

„0,8 Prozent 'schwere Impfkomplikationen' ist absolut unrealistisch und unseriös“, kommentiert Leif Erik Sander, Leiter der Impfstoffforschung an der Charité, auf Twitter. Dies decke sich mit keiner der sehr großen internationalen Studien. „Wer Impfreaktionen nicht von Komplikationen unterscheidet, streut Desinformation.“

Mit der Wortwahl und den genauen Unterscheidungen fangen die Fragezeichen rund um Matthes’ Studie an. Denn wer die Debatte hierzu in den sozialen Medien verfolgt, merkt schnell: Impfreaktionen, Impfnebenwirkungen und Impfschäden werden von vielen in einen Topf geworfen und praktisch synonym verwendet. Dabei gilt es die Begriffe zu unterscheiden.

Impfreaktionen, Impfkomplikationen und Impfschäden – das sind die Unterschiede

Was viele im Alltäglichen als „Nebenwirkungen“ bezeichnen, sind in den meisten Fällen Impfreaktionen beziehungsweise Impfkomplikationen. Nur selten kommt es zu Impfschäden, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auf ihrer Website erläutert:

  • Impfreaktionen sind üblicherweise der Ausdruck der erwünschten Auseinandersetzung des Immunsystems mit dem Impfstoff und klingen in der Regel nach wenigen Tagen ab. Das können zum Beispiel stärkere Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und Gelenkschmerzen, Schmerzen oder Schwellungen an der Einstichstelle, Rötung, Müdigkeit oder grippeähnliche Symptome sein.
     
  • Impfkomplikationen sind hingegen schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW). Nach Impfungen sind sie sehr selten. Dabei handelt es sich um Symptome, die über das übliche Maß einer Impfreaktion – wie oben beschrieben – hinausgehen. Besteht der Verdacht einer solchen gesundheitlichen Schädigung, muss der behandelnde Arzt diese dem Gesundheitsamt melden.
     
  • Impfschäden sind Impfkomplikationen, die in sehr seltenen Fällen so gravierend sind, dass sie längerfristig eine gesundheitliche oder wirtschaftliche Folge darstellen. Diese Folge können Sie sich auf Antrag hin als Impfschaden anerkennen lassen.

Definition von „schwerwiegenden Nebenwirkungen“

Harald Matthes definiert „schwerwiegende Nebenwirkungen“ erkennbar anders als andere Fachleute. Die Arzneimittelbehörden FDA und EMA verstehen darunter Erkrankungen, die tödlich oder lebensbedrohlich sind, oder die zu einer Krankenhauseinweisung oder zu bleibenden Schäden führen.

Auf Nachfrage der „Welt“ legte der Forscher seine Kriterien dar: In seiner Studie zählen Nebenwirkungen schon dann als schwerwiegend, wenn ein Patient einen Arzt aufsucht und der ihn für mindestens drei Tage krankschreibt. Auch ein zeitlicher Zusammenhang zur Impfung, wie sonst üblich, ist für die Einordnung als „schwerwiegende Nebenwirkung“ nicht nötig. Das ist in jedem Fall eine eigenwillige Definition.

Zur Person

Harald Matthes ist seit 2017 Stiftungsprofessor für Integrative und Anthroposophische Medizin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin und ärztlicher Leiter des Gemeinschaftskrankenhauses Havelhöhe. Der Forscher ist gelernter Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie. 2011 habilitierte er an der Charité. Zudem wird Matthes nach „Welt“-Informationen von einer Stiftung finanziert, die die traditionell impfkritische Anthroposophische Medizin fördern will. Die Tageszeitung „Taz“ zeichnete zuletzt ein recht kritisches Bild seiner Person.

Neben seiner Tätigkeit an der Berliner Charité ist Matthes im Vorstand mehrerer medizinischer Fachgesellschaften und untersucht seit Jahren die Wirkung von Arzneimitteln systematisch.

Problem 2: Der Status der Studie

Ohnehin ist es für die Fachwelt schwierig, das, was der Mediziner als Ergebnisse präsentiert, zu beurteilen. Die Nachrichtenagentur dpa verzichtet auf eine Berichterstattung, da bislang keine Daten einsehbar sind. Das mache eine Einordnung unmöglich.

Tatsächlich existiert bisher keine schriftliche Publikation, in der Methode und Ergebnisse erläutert würden. Außerdem ist die „ImpfSurv“-Studie nicht abgeschlossen, sondern rekrutiert weiter Teilnehmende.

Problem 3: Das Studiendesign

Experten bemängeln außerdem das Studiendesign der ImpfSurv-Untersuchung. Die Analyse beruht auf einer Online-Befragung, zu der sich die Menschen freiwillig melden können. Emanuel Wyler urteilt: „Zur Methode: das ist teilweise aus dem Studiendesign ersichtlich, und da schon ist klar, dass das nicht repräsentativ sein wird.“ Der Wissenschaftler erforscht das Coronavirus in verschiedenen Arbeitsgruppen an der Charité Berlin, der FU Berlin und am Max-Delbrück-Centrum in Berlin. Auf seinem Blog, auf Twitter und Facebook teilt Wyler regelmäßig seine Einschätzungen hierzu. Für belastbare Aussagen zu Folgen nach der Impfung braucht es eine Vergleichsgruppe mit Ungeimpften.

Montgomery kritisiert „unsauberes“ Studiendesign

Die Auswahl der Teilnehmenden kritisiert Frank Ulrich Montgomery, Ehrenpräsident der Bundesärztekammer, im Gespräch mit Harald Matthes in der Sendung von „Servus TV“ gleichermaßen: „Seine Studie basiert darauf, dass sich Leute, die eine Motivation haben, selber melden. Eine wissenschaftlich saubere, also nehmen Sie mir sauber nicht übel, aber eine wissenschaftlich prospektiv vernünftige Studie würde alle Leute einschließen oder zumindest eine repräsentative Gruppe von Leuten einschließen, egal ob sie sich melden oder nicht.“ Für ihn als Wissenschaftler erfülle die Online-Befragung so nicht unbedingt die Kriterien einer hochrepräsentativen prospektiven randomisierten Studie.

Persönliche Einstellung beeinflusst Wahrnehmung

Wie sehr die persönliche Einstellung die Wahrnehmung beeinflusst, erklärte der Risikoforscher Felix Rebitschek bereits im Gespräch mit FOCUS Online: Menschen haben ihm zufolge eine individuelle Erwartung, die sich auf die wahrgenommenen Risiken auswirkt. Sie beruht immer auf eigenen Erlebnissen und Auseinandersetzungen mit dem Thema.

Eine persönliche Erwartung kann etwa sein: Komplikationen, die riskant sind, können auftreten. Wer bereits erwartet hat, dass die Corona-Impfstoffe schwere Nebenwirkungen mit sich bringen, wird die Meldungen zu den seltenen, aber schwerwiegenden Sinusvenenthrombosen einiger Astrazeneca-Impflinge anders aufnehmen (z.B. Bestätigung des wahrgenommenen Risikos) als jemand, der eher nicht mit schlimmen Komplikationen rechnet (z.B. Bestätigung, dass die Überwachungssysteme funktionieren).

Harald Matthes entgegnet Montgomery, dass er ihn bezüglich der Repräsentativität beruhigen könne: Sie hätten die Zahlen, wie die Cluster zwischen den Geschlechtern, zwischen den sozioökonomischen Gruppen, zwischen den Altersgruppen in ihrer Impfrate seien. Sie hätten „einen guten Abgleich“. Der Studienleiter gesteht allerdings ein: „Wo wir einen Fehler in der Kohorte haben und das hängt wiederum mit der Digitalisierung zusammen, da unseres ein elektronisches System ist, die Altersklasse 75 aufwärts ist deutlich unterrepräsentiert.“

Zudem würden sie mit entsprechenden Registern in anderen Ländern vergleichen. Die 0,8 Prozent schwere Nebenwirkungen würden sie hier ebenso sehen. Matthes greift erneut den Punkt Definition auf. Für ihn fällt darunter, „wenn eine ärztliche Behandlung notwendig ist oder eine stationäre Aufnahme“.

Problem 4: Die Daten

Damit geht es um die konkreten Daten. Matthes bezieht sich unter anderem darauf, dass bereits die Zulassungsstudien von Biontech Nebenwirkungsraten für schwere Nebenwirkungen von 0,8 Prozent bei den über 75-Jährigen und 0,4 Prozent bei den unter 55-Jährigen zeigten. „Das heißt, wir wussten um die Anzahl“, betont der Forscher bei „Servus TV“.

Der Haken daran: Die Daten sind so zwar korrekt, aber es fehlt der Vergleich zur Placebo-Gruppe. Auch hier lag nämlich die Rate von „serious adverse events“ bei 0,5 Prozent, wie die Informationen für die FDA zeigen.

Damit kommt wieder der Punkt Wahrnehmung und persönliche Erwartung ins Spiel. Auch Probanden, die gar keine Impfung bekommen haben, berichteten von vermeintlich „schweren Nebenwirkungen“.

Wo Betroffene von Impfnebenwirkungen Hilfe bekommen

Für die Transparenz rund ums Thema Impfung trägt die Studie ihren Teil bei. Auch Impfstoffforscher Sander erklärt: Es solle keinesfalls heruntergespielt werden, dass es in sehr seltenen Fällen nach einer Covid-19 Impfung zu gesundheitlichen Schäden kommen kann – wie bei jeder medizinischen Maßnahme. Insgesamt überwiegt seiner Einschätzung nach aber der Nutzen der Impfung sehr, sehr deutlich die Risiken.

Auch Harald Matthes schlägt keineswegs nur Alarm, sondern macht Hoffnung: 80 Prozent der schweren Nebenwirkungen klingen in den folgenden drei bis sechs Monaten auch wieder ab.

Fazit: Die Studienergebnisse bleiben abzuwarten und von der Fachwelt zu beurteilen. Ob Untererfassung oder nicht – es gibt einige Betroffene, die leiden unter Beschwerden. Dafür, dass ihnen geholfen wird, setzt sich Matthes jedenfalls ein.

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