Der weibliche G-Punkt ist ein Mysterium. Wenig dazu ist faktisch erwiesen, fangen wir also am besten damit an, was unzweifelhaft feststeht. Der Mann, der diesen Hotspot gefunden – oder erfunden? – hat, ist der deutsche Gynäkologe Ernst Gräfenberg. Daher auch der Name, G wie Gräfenberg. Er interessierte sich sehr für den weiblichen Orgasmus, und das wollen wir ihm erstmal hoch anrechnen.
In seinem 1950 erschienen Aufsatz im „International Journal of Sexology“ erklärt Gräfenberg, „dass die vordere Vaginalwand unterhalb der Urethra der Sitz einer ausgeprägten erogenen Zone ist und dass diese bei der Behandlung weiblicher sexueller Mangelzustände eine größere Bedeutung erhalten sollte“. Mit anderen Worten: Es gibt einen Bereich innerhalb der Vagina, der durch Stimulation zu einem Orgasmus führt. Führt man zwei Finger etwa fünf Zentimeter tief in die Vagina ein und drückt sie in Richtung Bauch, fühlt sich das Gewebe dort rauer an.
Aber ist dieser G-Punkt wirklich der Schlüssel zum weiblichen Orgasmus?
Ja und nein – und um diese Antwort zu verstehen, müssen wir den weiblichen Orgasmus näher betrachten. Da gibt es den klitoralen Orgasmus, ausgelöst durch die Stimulation der Klitoriseichel, eine vergleichsweise unkomplizierte Angelegenheit.
Mysteriöser ist der vaginale Orgasmus. Kann eine Frau kommen, wenn „einfach nur“ ein Penis in ihre Vagina eindringt? „Nein“, sagen viele Frauen leise – leider oft nur zu ihren Freundinnen. Falls sie doch mit ihren Partnern darüber sprechen, stehen diese oft vor einem Rätsel – und machen sich nicht selten verzweifelt auf die Suche nach dem G-Punkt, oft angespornt von Gebrauchsanleitungen aus sogenannten Männermagazinen.
Wir sind Opfer einer Orgasmus-Hierarchie, die die schönste Sache der Welt unnötig kompliziert macht: Der klitorale Orgasmus gilt als schnödes Handwerk, der vaginale Orgasmus als hohe Kunst im Liebesspiel. Schuld daran ist kein Geringerer als Sigmund Freud, der 1905 den klitoralen Orgasmus für unreif und behandlungsbedürftig erklärte, während der Vaginalorgasmus der einzig wahre für die erwachsene Frau sei: „Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine für die spätere Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt.“ Besonders perfide: Kommt die Frau beim „normalen“ Geschlechtsverkehr nicht zum Höhepunkt, liegt das Problem bei ihr, so die Einschätzung Freuds. Eine unbelegte Theorie, die erstaunlicherweise bis heute in vielen Köpfen herumspukt.
Die französische Prinzessin und Urgroßnichte Napoleons, Marie Bonaparte, veranlasste sie im Jahr 1927 zu einer riskanten Operation – die in Liv Strömquists Comic „Der Ursprung der Welt“ herrlich bebildert wird. In der Hoffnung, endlich einen vaginalen Orgasmus erleben zu können, ließ sich die Freud-Anhängerin ihre Klitoris operativ in Richtung Vagina verlegen – doch der Erfolg blieb aus. Wie viel angenehmer und erfolgsversprechender wäre es doch gewesen, stattdessen die Hand ihres Mannes, Prinz Georg von Griechenland und Dänemark, auf ihre Klitoris zu legen.
Die Entdeckung des G-Punktes durch Gräfenberg schien die Dinge deutlich zu vereinfachen, vor allem in der männlichen Logik: Endlich war der Knopf identifiziert, mit dem der vaginale Orgasmus ausgelöst werden konnte. Wenn der klassische Sex nicht zum Orgasmus führte, musste der Knopf kaputt sein. Eine Vorstellung, die sich findige Intimchirurgen heute zu Nutze machen: Sie bieten eine Aufspritzung des G-Punktes mit körpereigenem Fettgewebe oder mit Hyaluronsäure an und versprechen der Patientin, dadurch leichter zum vaginalen Orgasmus zu kommen. Dieser medizinische Eingriff dauert nur eine halbe Stunde, kostet um die 1200 Euro und muss regelmäßig wiederholt werden, denn das gespritzte Material baut sich schnell wieder ab. So verwandeln sie die Vagina in eine Goldgrube.
Für die Summe könnte man sich als Frau vermutlich auch ein mehrtägiges Tantra-Seminar, zahlreiche Callboys oder einen mit 18-karätigem Gold überzogenen Dildo leisten. Nur so als Idee.
Die Vermessung der Klitoris
Aber widmen wir uns lieber dem neuesten Stand der Forschung. Der legt nahe, dass wir aufhören sollten, zwischen klitoralem und vaginalem Orgasmus zu trennen. Denn wir wissen seit 1998, dass die Klitoris bis tief in den weiblichen Unterleib hineinreicht. Ihre knapp zehn Zentimeter langen Schwellkörper schmiegen sich von innen an Vagina und Vulva – und damit auch an die Stelle, die G-Punkt genannt wird. „Der G-Punkt in der Vorderwand der Vagina wird von vielen Forschern heute als Teil der vorderen Klitoriswurzel verstanden“, schreibt Naomi Wolf in ihrem Buch „Vagina“.
Diese Erkenntnis ist so revolutionär wie damals die Entdeckung des G-Punktes. Klitoris, Vagina und all die oben aufgeführten Punkte gehören demselben komplexen Nervengeflecht an. Damit kann kein Orgasmus mehr richtig oder falsch, besser oder schlechter sein. Kein Punkt muss krampfhaft gefunden werden, und das nimmt nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer viel Druck aus der Sache. Es gibt unzählig viele Stellen, deren Berührung eine Frau erregen kann, und bei jeder sind sie anders. Wer aufmerksam und einfühlsam ist, kann bei der Suche neue Lustpunkte finden – man muss sie ja nicht gleich nach sich benennen.
Im Video: Lippenbekenntnisse – Frauen sprechen über Sex (SPIEGEL TV 2012)
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