Es wirkt fast wie eine Posse: Einen Tag nachdem die Bundeskanzlerin vor die Kameras trat und sich reuevoll bei der Bevölkerung für die Verzweiflungsidee der »Osterruhe« entschuldigte, verkündet das Saarland, nach Ostern wieder weitgehend zur Normalität zurückkehren zu wollen.
Während also die Bundesregierung in Marathonsitzungen darüber diskutiert, wie man den Lockdown strenger gestalten kann und die Frage wälzt, ob es eine Ausgangssperre benötigt, um die dritte Coronawelle zu brechen, öffnen im Saarland ab dem 6. April Gastronomie, Sport- und Kultureinrichtungen. Auch die Kontaktbeschränkungen sollen gelockert werden.
Ist das Saarland auf einmal coronafrei? Nein, auch in dem kleinen Bundesland an der Grenze zu Frankreich herrscht inzwischen die ansteckendere und tödlichere Mutante B.1.1.7 vor. Dennoch nimmt Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) nun einen Strategiewechsel vor. Das Saarland wäre damit das erste Bundesland, das flächendeckend die Corona-Beschränkungen lockert. Ein ähnliches Modell verfolgt bereits Tübingen auf regionaler Ebene. Und auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller kündigte am Donnerstag an, trotz steigender Zahlen nicht die Notbremse ziehen zu wollen.
Grenze der Geduld ist erreicht
Den Grund für den Schritt sieht Hans in der hohen Belastung durch die Corona-Maßnahmen: Die lang anhaltenden Einschränkungen stießen immer mehr an Grenzen, sagte Hans am Donnerstag. »An Grenzen der Geduld bei den Menschen; an Grenzen der Zumutbarkeit für Unternehmen, Betriebe, Kulturschaffende und alle sonstigen Betroffenen.« Man wolle daher die verschiedenen Instrumentarien zur Pandemiebekämpfung neu gewichten: Weniger Kontaktbeschränkungen, dafür mehr testen und schneller impfen.
Das Saarland schöpft damit ein Mittel aus, das von der Ministerpräsidentenkonferenz abgesegnet wurde. Dort wurde beschlossen, dass Regionen mit einer stabilen Sieben-Tage-Inzidenz unter 100 pro 100.000 Menschen von den bundesweiten Regelungen abweichen und als Modellprojekt mehr Öffnungen zulassen dürfen – unter bestimmten Voraussetzungen.
Hans sieht sein Land als hervorragend geeignet für solch ein Modellprojekt. Tatsächlich liegen die Inzidenzwerte in allen Landkreisen unter 100, jedoch weiterhin über 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. (Zur Erinnerung: Eine Inzidenz von 50 galt bis vor wenigen Wochen als die kritische Marke für Öffnungen.)
Um zu verhindern, dass die Fallzahlen nach den Öffnungen wieder steigen, setzt Hans vor allem auf eine Schnelltest-Strategie: Wer in ein Restaurant, Geschäft oder Theater will, muss einen tagesaktuellen, negativen Antigentest vorlegen. Die Testinfrastruktur dafür sei hervorragend. »All das freilich unter der Bedingung von nach wie vor geltenden Hygiene-, Abstands- und sonstigen Schutzregeln«, sagte der Ministerpräsident.
Zusätzlich will er das Impfen beschleunigen. Das könnte im Saarland sogar funktionieren: Als Grenzregion hat es vom Bund 80.000 zusätzliche Impfdosen zur Verfügung gestellt bekommen. Zusammen mit den 100.000 Dosen aus dem allgemeinen Kontingent sieht sich Hans bestens gerüstet. »Anfangs hat es ja etwas gestottert mit den Impfungen«, sagte Hans. »Jetzt nehmen wir aber richtig Fahrt auf.«
»Programmierter Misserfolg«
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hält den Vorstoß für unhaltbar. »Das Saarland erhält aus dem Kontingent anderer Bundesländer zusätzliche Impfdosen, weil es Grenzregion ist, und zum Dank machen sie jetzt ein Experiment, das zum Scheitern verurteilt ist«, sagte er dem SPIEGEL. »In der jetzigen Situation ist so ein Modellprojekt ein programmierter Misserfolg.«
Lauterbach ist für seinen harten Corona-Kurs bekannt – und dafür, dass er mit seinen Prognosen bezüglich des Pandemieverlaufs oft richtig liegt. »Wir werden die Ausbreitung von B.1.1.7 ohne einen schärferen Lockdown nicht in den Griff bekommen«, sagt er. »Das Saarland suggeriert jetzt, dass Öffnungen möglich sind, wenn man sie nur intelligent durchführt. In Wahrheit werden wir aber um härtere Maßnahmen inklusive einer Ausgangssperre nicht herumkommen.«
Schnelltests könnten zwar ein wirksames Mittel in der Pandemiebekämpfung sein. »Doch sie müssen systematisch eingesetzt werden, in Schulen und Betrieben«, so Lauterbach. »Denn für einmalige Testungen vor Betreten eines Ladens sind Antigentests zu unzuverlässig und viele wiegen sich auch Tage danach noch in falscher Sicherheit.«
Schnelltests ja, aber mit System
Forscher der TU Berlin haben am Beispiel Berlin simuliert, welche Wirkung Schnelltests im Pandemiemanagement haben können. Der verbreitete Einsatz von Schnelltests kann demnach einen starken Beitrag zur Reduzierung der Fallzahlen leisten. Die Simulationen zeigen vor allem im Bildungs- und Arbeitsbereich eine deutliche Reduzierung der Inzidenzen – jedoch nur wenn die Tests regelmäßig angewendet werden und positiv getestete Personen sich konsequent in Quarantäne begeben.
Wenn zusätzlich zum Bildungs- und Arbeitsbereich nun auch der Freizeitbereich in die Teststrategie integriert würde – so wie es das Saarland plant – ließen sich die Fallzahlen noch einmal deutlich reduzieren. Voraussetzung dafür seien Tests im großen Umfang: Täglich müssten etwa 20 Prozent der Personen getestet werden, heißt es in dem Bericht, der ans Bildungsministerium übermittelt wurde. Doch selbst wenn regelmäßig getestet würde und sich die positiv Getesteten konsequent isolieren würden, ließe sich das Infektionsgeschehen durch dieses Testregime nur auf das Niveau der zweiten Welle drücken. Die Gesamtstrategie müsse daher von weiteren Maßnahmen flankiert werden.
Und genau da könnte das Problem im Saarland liegen: Die Teststrategie kommt nicht zusätzlich zu den Maßnahmen, sondern tritt an deren Stelle. Dafür sind die Tests jedoch nur bedingt geeignet. Denn Schnelltests sind unzuverlässiger als etwa PCR-Tests. Je nach Sensitivität erkennen sie bis zu 20 von 100 Corona-Positiven nicht, da die Tests eine große Virusmenge benötigen, um anzuschlagen. Die Ergebnisse von Schnelltests sind also vor allem dann aussagekräftig, wenn sie mehrmals pro Woche an gleichen Personengruppen angewendet werden.
In Schulen oder Betrieben macht der systematische Einsatz von Schnelltests also Sinn, da die gleiche Personengruppe regelmäßig gescreent wird. Sobald eine Person positiv getestet wird, kann sie umgehend isoliert werden und ein überschaubarer Kreis an Mitschülern in Quarantäne gehen.
Wer sich hingegen einmalig vor dem Besuch im Fitnessstudio testen lässt, hat ein Risiko, unerkannt mit dem Virus infiziert zu sein und dieses weiterzugeben. »Deshalb sollten diese Tests nur bei Personen angewendet werden, bei denen ein falsch negatives Ergebnis nicht zu schwerwiegenden Konsequenzen führt«, warnt auch das Robert Koch-Institut (RKI). Auf weitere Maßnahmen, wie etwa Maske tragen, Abstand halten und Lüften, darf daher eigentlich nicht verzichtet werden. Im Kino wird das schwierig.
In Ländern, die bereits breitflächig Schnelltest-Massenscreenings einsetzen, wie etwa Österreich, die Slowakei oder Südtirol, hat sich zudem gezeigt, dass die Tests allein die Pandemie nicht stoppen konnten. Schnelltests können also ein ergänzendes Werkzeug sein, um die dritte Welle zu bremsen. Doch ersetzen können sie die Corona-Maßnahmen nicht.
Der Vorstoß aus dem Saarland kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die Bevölkerung müde ist von immer neuen – und teilweise leider auch diffusen – Maßnahmen. Doch er kommt auch zu einem Zeitpunkt, an dem das Infektionsgeschehen von einer Mutation beherrscht wird, die ansteckender und tödlicher ist. An dem sich die Corona-Zahlen in Deutschland wieder im exponentiellen Wachstum befinden. Und an dem sich die Intensivbetten in Deutschland wieder füllen.
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