„Viele halten Ebola für einen Mythos“

SPIEGEL ONLINE: Frau Kerr, die aktuelle Ebola-Epidemie in der Demokratischen Republik Kongo wütet seit mehr als einem Jahr. Warum ist die Krankheit so schwer zu stoppen?

Kerr: Die Demokratische Republik Kongo gehört zu den komplexesten Ländern der Welt. Es ist riesig, erstreckt sich über zwei Zeitzonen und besteht aus 26 Provinzen, die jede wie ein eigenes Land funktionieren. Von der Hauptstadt Kinshasa bis nach Goma fliegt man mehr als zwei Stunden, genauso lange wie von London nach Madrid. Die Menschen hier sind dauernd in Bewegung, weil sie auf der Flucht sind oder weil sie zwischen den einzelnen Provinzen und Nachbarstaaten pendeln, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

SPIEGEL ONLINE: Müssten also alle Grenzen geschlossen werden?

Kerr: Das wäre unmöglich umzusetzen. Viel entscheidender ist es, dass die Menschen sofort in ein Behandlungszentrum gehen, sobald die ersten Symptome auftreten. Werden sie innerhalb von einem bis drei Tagen therapiert, haben sie gute Chancen, geheilt zu werden. Wenn nicht, ist das Risiko hoch, dass die Krankheit tödlich verläuft. Ohne Therapie sterben etwa 70 Prozent der Betroffenen. Leider lassen sich noch immer zu wenige behandeln.

SPIEGEL ONLINE: Woran liegt das?

Kerr: Das Misstrauen in der Bevölkerung ist noch immer groß. Viele halten Ebola für einen Mythos – erfunden von Pharmakonzernen, um Geld zu machen. Und nicht wenige glauben, dass man sich über Impfungen überhaupt erst mit Ebola infiziert. Immer wieder sind Behandlungszentren angegriffen worden. Zuletzt hat es zwar deutlich weniger Attacken gegeben, aber gerade mobile Einheiten, die durch die Städte und Dörfer fahren, sind nach wie vor gefährdet. Allein in diesem Jahr gab es mehr als 200 Angriffe auf Helfer.

SPIEGEL ONLINE: Wie lässt sich das Misstrauen abbauen?

Kerr: Das ist eine unserer wichtigsten Aufgaben. Wir sind ständig in Kontakt mit den Menschen, klären sie auf über die Symptome und über die Krankheit und wie sie sich behandeln lässt. Viele Überlebende unterstützen uns dabei. Sie erzählen von der Therapie und wie sie geheilt wurden. Dadurch machen wir langsam Fortschritte. Früher wurden Ebola-Überlebende häufig geächtet, heute ist das seltener der Fall.

SPIEGEL ONLINE: „Save the Children“ setzt sich vor allem für die Belange von Kindern ein. Wie sehr leiden sie unter der Epidemie?

Kerr: Bisher gibt es etwa 700 registrierte Fälle von Ebola bei Kindern, mehr als 500 starben. Ihre Sterblichkeitsrate ist damit noch höher als bei Erwachsenen. Hinzu kommt, dass die Krankheit Hunderte Kinder zu Halb- oder Vollwaisen gemacht hat. Mindestens 2400 weitere leben wegen der Krankheit dauerhaft von ihren Familien getrennt.

SPIEGEL ONLINE: Was passiert mit diesen Kindern?

Kerr: Der fehlende Schutz der Familie macht sie anfälliger für Gewalt und Missbrauch. Außerdem werden seit Kurzem wieder Schulgebühren verlangt, die Waisenkinder nur schwer aufbringen können. Laut Schätzungen haben 60 Prozent der Kinder keinen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung. Und Ebola ist längst nicht die einzige Bedrohung für Kinder. Viele von ihnen mussten mit ansehen, wie Angehörige getötet oder verletzt wurden oder sie wurden selbst angegriffen.


Kongo – ein Name, zwei Staaten

Es gibt in Zentralafrika zum einen die Demokratische Republik Kongo mit der Hauptstadt Kinshasa und zum anderen die Republik Kongo mit der Hauptstadt Brazzaville. Die Grenze beider Länder verläuft teils entlang des Flusses Kongo. Auf der Kongokonferenz der europäischen Kolonialmächte 1884/85 in Berlin erhielten die Franzosen das kleinere Territorium der heutigen Republik Kongo. Der belgische König Leopold II. sicherte sich das Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo und machte es zu seiner Privatkolonie, die er rücksichtslos ausbeutete.

1960 erlangten sowohl die belgische als auch die französische Kolonie ihre Unabhängigkeit. Nach mehreren Namensänderungen (unter anderem Zaire) heißt die ehemalige belgische Kolonie seit 1997 Demokratische Republik Kongo, die vormals französische Kolonie seit 1991 Republik Kongo. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir in unseren Texten für die Demokratische Republik Kongo in der Regel die einfache Bezeichnung Kongo.


SPIEGEL ONLINE: Welche Hoffnung setzten Sie in die neu entwickelten Impfungen?

Kerr: Derzeit werden vor allem medizinische Helfer und direkt Betroffene geimpft. Danach die Menschen, die Kontakt zu den Infizierten hatten, dann die Kontaktpersonen der Kontaktpersonen und immer so weiter. Um die Epidemie wirklich eindämmen zu können, müssten aber deutlich mehr Menschen geimpft werden. Ähnliches gilt für die eingesetzten Medikamente. Sie können die Überlebensrate zwar steigern, wirklich eindämmen können sie die Krankheit jedoch nicht. Außerdem ist noch keine Arznei offiziell als Mittel gegen Ebola zugelassen.

SPIEGEL ONLINE: Wann, glauben Sie, könnte die Epidemie eingedämmt werden?

Kerr: Das lässt sich nur schwer abschätzen. Ich hoffe sehr, dass sie nicht noch ein Jahr andauern wird. Mit Sicherheit sagen können wir das jedoch nicht. Zwischenzeitlich hatten wir immer wieder Hoffnung, die Krankheit ließe sich eindämmen. Zuletzt sind die Fallzahlen jedoch wieder leicht gestiegen. Ein großer Rückschlag war der jüngste Ausbruch in Süd-Kivu. Eine junge Mutter starb, auch ihr Kind hatte sich infiziert. Damit ist die Krankheit weiter in den Süden vorgedrungen als je zuvor. Der Kampf ist noch lange nicht vorbei.

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