Gerichte geben dem SPIEGEL in den ersten 83 Fällen zu „Euros für Ärzte“ recht

Pharmafirmen überweisen Ärzten in Deutschland jedes Jahr viele Millionen Euro – sie bezahlen für Beratung und Vorträge, Reisen und Fortbildungen. 2016 ließen sich diese wirtschaftlichen Beziehungen erstmals bis ins Detail nachvollziehen: Mehr als 20.000 Mediziner beteiligten sich an einer Transparenzinitiative der Pharmaunternehmen und stimmten zu, namentlich genannt zu werden – mit der Summe ihrer Zuwendungen.

In einer gemeinsamen Recherche führten SPIEGEL und „Correctiv“ diese Angaben zusammen und machten sie zugänglich, in interaktiven Karten und einer durchsuchbaren Datenbank. Darin fanden sich die Zuwendungen an Ärzte und Apotheker sowie andere Angehörige von Heilberufen. Zugleich berichteten die Redaktionen kritisch über die Verflechtungen. Denn wie Studien zeigen, können diese das professionelle Urteilsvermögen von Ärzten beeinflussen. Die finanzielle Beziehung zu einem Pharmaunternehmen kann also zu einem Interessenkonflikt führen. Die mögliche Folge ist, dass die Mediziner nicht mehr voll im Sinne ihrer Patienten entscheiden.

Diese Gefahr journalistisch aufzubereiten und für Leserinnen und Leser auf persönlicher Ebene transparent zu machen – darin liegt für den SPIEGEL der Mehrwert des Projekts „Euros für Ärzte“. Es soll auf mögliche Interessenkonflikte hinweisen und einen Dialog zwischen Patienten und Ärzten anregen. Einige der genannten Mediziner aber wollten nicht in der Datenbank der Journalisten auftauchen – und zogen vor Gericht.

Eine Kanzlei, Hunderte Verfahren

Bis heute haben 174 Ärzte und Fachkreisangehörige Klage gegen die Veröffentlichung der Zuwendungen durch den SPIEGEL eingereicht, gegen „Correctiv“ wurden 132 Verfahren angestrengt. Vertreten werden die Kläger von der Berliner Kanzlei von Langsdorff & Weidenbach, die auf Medizinrecht spezialisiert ist.

Zu dieser Fülle von Aufträgen kommt die Kanzlei durch einen Verein, den sie in rechtlichen Fragen berät. Nach den Veröffentlichungen der Zuwendungen wandte sich dieser Verein namens Therapiefreiheit für Ärzte e.V. direkt an Mediziner. In einem Schreiben wurde ihnen angeboten, sich einer Sammelklage anzuschließen, falls sie gegen „die Ehrverletzung“ und den „Vorwurf, zu den käuflichen Ärzten zu gehören“, angehen wollen. Diesen Vorwurf hatte es in der Berichterstattung von SPIEGEL und „Correctiv“ zwar nie gegeben – die Empfänger des Schreibens dürften die vermeintlichen Zitate dennoch zusätzlich motiviert haben, vor Gericht zu ziehen.

Entsprechend stark ähneln sich nun auch die Klageschriften in ihrer Begründung: Die Berichte der Redaktionen seien rechtswidrig, da Ärzte „als korrumpierbar und raffgierig an den Pranger gestellt“ würden. Daher verletze die Berichterstattung die Mediziner in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

Recherchen für die Öffentlichkeit

Dieser Auffassung sind die zuständigen Gerichte bislang in keinem Fall gefolgt. Die Klage sei unbegründet, stellte beispielsweise das Landgericht Stuttgart fest. In der Berichterstattung des SPIEGEL werde die „Gefahr einer Beeinflussung sachlich und durch Studien unterlegt als Problem geschildert“. Zugleich werde beschrieben, dass sich viele Mediziner der Gefahr eines Interessenkonflikts durch Zuwendungen gar nicht bewusst seien. Eine Stigmatisierung dieser Ärzte liege nicht vor.

Positiv bewertete das Landgericht zudem, dass die Redaktionen die Angaben aus öffentlich zugänglichen Quellen zusammengetragen haben. Denn die Pharmaunternehmen hatten die Summen jeweils in eigenen Listen veröffentlicht – in mehr als 50 Dokumenten, sodass es für Patienten kaum möglich war, einen Überblick über die wirtschaftlichen Verflechtungen einzelner Ärzte zu erhalten. Sie hätten jedes Dokument einzeln durchsuchen müssen, was in vielen Fällen zusätzlich technisch erschwert wurde.

Dabei ist es für jeden potenziellen Arztbesucher von Interesse, über die geldwerten Leistungen an einen Arzt Bescheid zu wissen. Das zeigen nicht nur die Millionen Suchanfragen in der veröffentlichten Datenbank. Auch das Landgericht Stuttgart bewertete das öffentliche Informationsinteresse als hoch – und zusammen mit der Pressefreiheit des SPIEGEL als vorrangig gegenüber den Interessen der klagenden Ärzte. Zu vergleichbaren Urteilen kamen bislang sämtliche Gerichte in Verfahren zum Projekt „Euros für Ärzte“. Viele sind rechtskräftig, bei einigen hat die Kanzlei Berufung eingelegt.

Protest auf Kosten der Allgemeinheit

Aus Sicht des SPIEGEL sind die bisherigen Ergebnisse natürlich erfreulich. Jedoch stellt sich zugleich die Frage, ob es derart viele Verfahren braucht, die allesamt ähnliche Ergebnisse hervorbringen, aber jeweils neu Geld in die Kasse der Berliner Kanzlei spülen. Nach Ansicht des Vertreters der Mediziner sei es hingegen wichtig, durch möglichst viele Verfahren an vielen Standorten zu zeigen, dass die Rechtslage unbefriedigend sei. Die Transparenzinitiative bedürfe deshalb der Überarbeitung beziehungsweise es sei nun der Gesetzgeber gefragt.

Paradox erscheint das Ergebnis in jedem Fall: Die Urteile wurden zwar im Sinne der Öffentlichkeit gefällt. Die Kosten jedoch dürften in vielen Fällen von einer Rechtsschutzversicherung getragen werden – und damit von der Allgemeinheit der Versicherten.

Die Transparenzinitiative verliert unterdessen an Reichweite: Seit 2016 sinkt der Anteil der Mediziner, die der Veröffentlichung ihres Namens zustimmen. Zunächst lag er bei 29 Prozent, im Jahr darauf bei 25 Prozent, inzwischen sind es noch 20 Prozent. Jeder fünfte Mediziner, der Zuwendungen erhalten hat, ist also noch damit einverstanden, in den Listen der Pharmaunternehmen aufzutauchen.

Es erscheint daher sinnvoll, die Zuwendungen vollumfänglich offenzulegen und dies gesetzlich zu verankern. In anderen Ländern wie den USA wird dies bereits seit einigen Jahren so gehandhabt. Für Patienten hat das zwei große Vorteile: Sie können aus den Daten ganz eindeutig den Umfang der finanziellen Verbindungen ableiten, die ihr Arzt zu Pharmaunternehmen pflegt. Zudem wird auf einen Blick erkennbar, welche Mediziner keine Zahlungen erhalten haben. In einer verpflichtenden Veröffentlichung läge also auch die Chance, Alternativen zur gängigen Praxis sichtbar zu machen und diese konstruktiv zu beschreiben.

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