Bindungsstörung bedeutet, keine sicheren Bindungen zu anderen Menschen aufbauen zu können. Solche Bindungsstörungen stehen oft am Anfang von Persönlichkeitsstörungen wie dem Borderline-Syndrom, einer dissoziativen oder narzisstischen Störung sowie der multiplen Persönlichkeitsstörung. Das Wichtigste in Kürze:
- Es gibt zwei Arten von Bindungsstörung, die reaktive und die enthemmte.
- Diese sind trotz ähnlicher Symptome nicht zu verwechseln mit den Folgen von sexuellem Missbrauch, frühkindlichem Autismus, dem Asperger-Syndrom, kognitiven Störungen oder Schizophrenie.
- Bindungsstörungen entstehen durch Vernachlässigung, Verwahrlosung, emotionale Kälte, aber auch durch eine Traumatisierung im Mutterleib sowie lange Klinikaufenthalte und chronische Krankheiten.
Inhaltsverzeichnis
Wie entsteht eine Bindungsstörung?
Diese Störungen entstehen in der Kindheit, oft durch Traumatisierungen, wenn Kinder misshandelt, missbraucht oder vernachlässigt werden und/oder keine körperliche wie seelische Nähe durch ihre Eltern erfahren. Damit werden ihre elementaren Bedürfnisse nicht erfüllt.
Es muss sich nicht um böse Absicht der Eltern handeln. Auch Verluste entscheidender Beziehungspersonen, Beziehungsabbrüche der Eltern oder psychische wie körperliche Erkrankungen von Vater und Mutter können zu einer solchen Störung führen. Mangelnde Förderung des Kindes kann eine Bindungsstörung ebenso auslösen wie deren Gegenteil – Überbehütung, in der das Kind seelisch erstickt und keine Autonomie aufbaut.
Typisch für manche Bindungsgestörte sind darüber hinaus ambivalente Bindungen in der Kindheit, in denen die Eltern zwischen Idealisierung des Kindes und dessen Verteufelung, Ablehnung und vermeintlicher Anerkennung schwankten. Oder aber Feindseligkeit der Eltern, in denen das Kind erfuhr, dass die Eltern es ablehnten und entwerteten.
Typische Ursachen
Folgende Umstände sind unter anderem als Ursachen für eine Bindungsstörung bekannt:
- Drogen- oder Alkoholmissbrauch der Mutter während (In-Utero-Trauma) und nach der Schwangerschaft,
- emotional gleichgültige Bezugspersonen,
- Depression der Mutter nach der Schwangerschaft,
- Trennung von Eltern und Pflegeeltern oder wechselnde Pflegeeltern
- und chronische Krankheiten in den ersten Jahren, verbunden mit medizinischen Eingriffen und/oder chronischen Schmerzen.
Die Bindungsstörung mit Enthemmung entsteht wesentlich im fünften Lebensjahr durch Verwahrlosung und emotionale Vernachlässigung.
Bindungs- oder Persönlichkeitsstörung?
Bei frühkindlichen Bindungsstörungen ist eine Diagnose bis zum 15. Lebensjahr sinnvoll. Ab dem 16. Lebensjahr diagnostizieren Ärzte Persönlichkeitsstörungen.
Wie viele Kinder leiden unter Bindungsstörungen?
Circa 70 Prozent aller Kinder gelten als sicher gebunden. Diese verfügen durch gute Erfahrungen und Vertrauen zu den engen Bezugspersonen über eine verstärkte Resilienz gegenüber psychischen Erkrankungen, die mit Bindungsproblemen verbunden sind. Solche Kinder sind in der Lage, stabile Beziehungen aufzubauen, sowohl gegenüber Freunden als auch später zu ihren Partnern.
Ungefähr 30 Prozent aller Kinder gelten als unsicher gebunden. Sie haben entweder ein unsicher vermeidendes oder ein unsicher ambivalentes Beziehungsverhalten. Vermeidend bedeutet, dass sie generell kaum enge Beziehungen eingehen, weil Nähe für sie mit Bedrohung verbunden ist. Ambivalent bezeichnet ein Pendeln zwischen Nähe und Distanz, Abhängigkeit und krampfhaft verteidigter Autonomie, Verschlossen- wie Offenheit, ohne diese notwendigen Pole zwischenmenschlicher Beziehungen in Einklang zu bringen. Solche Menschen sind in weit größerer Gefahr, psychische Krankheiten zu entwickeln. Bindungsstörungen im klinischen Sinne sind weitaus seltener. Wer darunter leidet, kann keine haltbaren Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen.
Die reaktive Bindungsstörung
Kinder, die darunter leiden, haben wenig Zugang zu ihren Gefühlen. Oft können sie ihre eigenen Gefühle nicht benennen, zwischen Zuneigung und Ablehnung kaum unterscheiden. Häufig sind sie aggressiv gegen andere oder gegen sich selbst und verhalten sich in sozialen Beziehungen widersprüchlich. Sie leiden unter diversen Ängsten. Ihr Pendeln zwischen Anziehung und Ablehnung, Vergöttern oder Verteufeln wirkt auf andere Menschen befremdlich. Außenstehende können sich die schroffen Reaktionen oft nicht erklären, und die Betroffenen verstehen ihr Verhalten selbst nicht. Schwere Fälle dieser Störung können das körperliche Wachstum von Kindern beeinflussen.
Typische Anzeichen für eine reaktive Bindungsstörung sind vor allem:
- Absurde Beziehungsmuster mit Mischungen aus Annäherung Vermeidung, Widerstand und Zuspruch,
- beeinträchtigtes soziales Spielen,
- Auto- und Fremdaggression,
- Furchtsamkeit/Ängstlichkeit,
- Übervorsicht,
- Unglücklichsein, Niedergeschlagenheit, Kummer,
- eingeschränkte emotionale Reaktionen (nicht ansprechbar),
- Apathie
- und sogenannte „eingefrorene Wachsamkeit“ (Gefühl ständiger Bedrohung).
Enthemmte Bindungsstörung
Diese Kinder können in sozialen Beziehungen nicht differenzieren. Sie gieren nach Aufmerksamkeit, egal, ob sie diese im positiven oder negativen Sinne erhalten. Sie klammern sich wahllos an andere Menschen. Sind sie traurig, dann heulen sie sich bei jedem aus oder bei gar keinem. Neben identischen Mustern der reaktiven Bindungsstörung können bei der enthemmten Form außerdem nicht-selektives Bindungsverhalten und nicht angemessene Reaktionen auf Beziehungsangebote von Bezugspersonen als Symptome auftreten.
Bindungstheorien
Der Psychiater John Bowlby entwarf in den 1950ern ein Bindungsmodell auf der Basis der Biologie und als Kritik an der Psychoanalyse. So erkannte er, dass Gefühllosigkeit bei Kindern, die „innere Leere“, ein Ergebnis von Traumatisierungen infolge von Trennungen wichtiger Bezugspersonen darstellt. Er untersuchte dafür besonders Kriegswaisen.
Bowlby zufolge sucht der Säugling die Nähe und Zuwendung einer vertrauten Person. Dies beginne gleich nach der Geburt, und dieses Bindungsverhalten sei für das Baby lebenswichtig. Im ersten Lebensjahr „organisiert“ der Säugling mit seiner wichtigsten Bezugsperson demnach ein interaktives Bindungssystem. Bindungsverhalten zeige sich als Festklammern, Nachlaufen, ebenso wie Protest, Trauer, Verzweiflung und letztlich Resignation, wenn die Bezugsperson das Kind verlässt.
Dieses Bindungsverhalten wird durch Trennung von der Bezugsperson, innere oder äußere Bedrohung, Schmerz wie Gefahr aktiviert – dabei ist es gleichgültig, ob es sich um eine gefühlte oder reale Gefahr handelt. Die angemessene Reaktion ist, dass die Bindungsperson dem Baby jetzt Sicherheit vermittelt und das Kind vor Bedrohungen schützt. Das Bindungsstreben steht beim Baby nicht notwendig im Gegensatz zu seinem Bestreben, die Welt zu erkunden, sondern je sicherer sich das Kind gebunden fühlt, umso weniger Angst hat es vor der „Welt da draußen“.
Ganz wichtig: Angst, Schmerz und Müdigkeit aktivieren das kindliche Bindungsbedürfnis, die Nähe zur Bezugsperson schaltet es aus. Die autoritäre Erziehung, wie sie in Deutschland Tradition hat und wie sie besonders die Nazis vertraten, führt also keinesfalls zu einem selbstständigen Kind.
Anleitungen, wie das Baby schreien zu lassen, es nicht zu verhätscheln, damit es lernt, allein zu sein, sind nicht nur ethisch eine Katastrophe, sie führen auch mitnichten dazu, dass das Kind seinen Weg in der Welt findet. Im Gegenteil: Es gibt eine Bedürfnisfolge, die sich genau so wenig aufheben lässt wie zuerst in die Schuhe zu schlüpfen und sie dann zuzubinden: Erst wenn sich das Kind durch ein befriedigtes Bedürfnis nach Bindung emotional sicher fühlt, erkundet es die Umwelt.
Dieses Erkunden nimmt im zweiten und dritten Lebensjahr deutlich zu, dabei bleibt das Kind aber mit Blicken und seinem Körper in Kontakt zur Mutter. Bindungsverhalten des Kindes sowie elterliche Fürsorge und Pflege gehören untrennbar zusammen. Bindung ist also kein Sekundärtrieb, sondern ein eigenständiges Motivationssystem, das ein elementares evolutionäres Verhalten darstellt – von der Geburt eines Menschen bis zu seinem Tod.
Feinfühligkeit und Intention
Es geht aber nicht nur darum, sich „freundlich“ dem Kind gegenüber zu verhalten, sondern feinfühlig. Kindliche Signale sind oft unspezifisch, und die Bezugsperson muss sie sich unabhängig von den eigenen Bedürfnissen erschließen. Das ist zwar kein Zaubertrick, sondern eine biologische Fähigkeit der Mutter, doch muss diese bei diesem Prozess aktiv sein: Das Kind kann sich mit zunehmenden Alter immer besser selbst regulieren, das heißt aber zugleich, dass es seine Formen, Aufmerksamkeit zu bekommen, ändert und sich die Mutter daran ständig anpassen muss.
Klappt das Wechselspiel zwischen beiden, entsteht eine sichere Bindung des Kindes an die Mutter, die dem wachsenden Menschen psychische Stabilität für den Rest des Lebens gibt. Feinfühligkeit bedeutet hier, das Kind als intentionales Wesen wahrzunehmen. Die Bindungsperson tut im richtigen zeitlichen Rhythmus das, was für das Kind angemessen ist. So bewegen sich beide im gleichen Affekt. Übrigens kommt es hier auch in harmonischen Eltern-Kind-Beziehungen häufig zu „Mismatching“. Das zeigt sich dann daran, dass das Kind schreit oder heult und so auf seine Bedürfnisse aufmerksam macht.
Ist der Dialog zur Bindungsperson unterbrochen, äußert sich das Kind lautstark, und wenn die Bindungsperson in solchen Situationen den Dialog wiederherstellt, stärkt das den positiven Kern der Beziehung und eine sichere Bindung. Gelingt es dem Kind aber wiederholt und auf Dauer nicht, diesen affektiven Austausch wiederherzustellen, erlebt es sich als wirkungslos, die Bindung wird unsicher, dem Kind fehlt es an Urvertrauen in seinem späteren Leben. Es gibt die intentional geprägten Versuche auf, die Beziehung auszugleichen, und die grundsätzliche Erwartung des Kindes wird negativ.
Feinfühligkeit ist zwar wichtig, ein Mangel an Feinfühligkeit führt aber nicht automatisch zu einem verunsicherten Menschen mit Bindungsstörungen, wenn andere Interaktionen gegeben sind wie das Gefühl von Gemeinsamkeit, Synchronizität, Akzeptanz und Elternliebe. Kurz gesagt: Auch wenn das Kind erfährt, dass die Bezugspersonen seine Signale nicht immer verstehen, es sich aber trotzdem von diesen akzeptiert und geliebt weißt, wird es kaum eine Bindungsstörung entwickeln.
Bindungsstörung und Realitätsverlust
Typisch für eine Bindungsstörung bei Kindern ist, dass sie Probleme haben, Fantasie und Wirklichkeit zu unterscheiden, was daran liegt, dass ihre Fähigkeiten, die eigenen Motive und die anderer zu verstehen, brach liegen. Bei vielen Bindungsgestörten reicht die Phase des magischen Denkens bis in die Teenagerjahre hinein, während Bindungsstarke ab dem Alter von sechs Jahren den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fantasie verstehen.
Die Bindungsstörung zeigt sich, damit einhergehend, in Problemen, zwischen sich und anderen zu unterscheiden. Sie verstehen zum Beispiel oft nicht, ob sie wütend sind oder ein anderer auf sie ist. Ihr Bild von anderen Menschen ist diffus. Sie können ihre Emotionen schlecht kontrollieren. Mit der Bindungsstörung hat das insofern zu tun, dass das Kind gerade in der Bindung die Entdeckung macht, ein „Ich“ zu sein. Dies beginnt in der Trotzphase mit dem dritten Lebensjahr, und bei bindungsstarken Kindern führt dies ab dem vierten Lebensjahr dazu, zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen anderer zu unterscheiden.
Kurz gesagt: Nur dadurch, dass Bindungsperson und Kind ihr Wechselspiel gemeinsam entwickeln und das Kind weiß, dass die Bindungsperson seine Signale versteht, entsteht überhaupt das Bewusstsein, den „eigenen Kopf durchzusetzen“, also, dass das Kind etwas will, das die Bezugsperson nicht will. Im späteren Leben treten bei Bindungsgestörten oft Selbstverletzung und Suizidalität auf. Psychischer Schmerz und dissoziative Zustände sind häufig. Die Betroffenen haben oft das Gefühl, etwas „Böses“ lebe in ihnen.
Was ist eine Bindungsstörung nicht?
Die ärztliche Diagnose Bindungsstörung unterscheidet sich von psychosozialen Problemen in der Folge sexueller wie körperlicher Misshandlung von Kindern sowie vom Formenkreis des Autismus. Überschneidungen in den Symptomen ergeben sich auch mit kognitiver Behinderung, schizoiden Persönlichkeitsstörungen, manchen extremen Psychosen und Anpassungsstörungen.
Im Unterschied zum frühkindlichen Autismus ist das Sprachvermögen bei beiden Formen der Bindungsstörung normal. Das gilt jedoch auch für das Asperger-Syndrom. Entscheidend für die Diagnose ist hier die Vorgeschichte, denn Bindungsstörungen sind sozial erworben, während autistische Störungen eine genetische Grundlage haben. Kognitive Behinderungen gehen einher mit einer eingeschränkten Intelligenz; bei Bindungsstörungen ist dies nicht der Fall. Im Unterschied zur Schizophrenie kommt es nicht zu Wahnvorstellungen.
Welche Bindungsstile gibt es?
Als „gesündester“ Bindungsstil gilt der sichere. Solche Menschen kommen anderen emotional leicht nahe. Sie fühlen sich wohl, wenn andere sie brauchen und sie selbst andere brauchen, haben zugleich keine Probleme allein zu sein und haben keine Angst, nicht akzeptiert zu werden. Solche Menschen konnten in ihrer Kindheit sichere Bindungen aufbauen.
Menschen mit ängstlich-ambivalenter Bindung möchten zwar große emotionale Nähe zu anderen haben, glauben aber, dass andere diese emotionale Nähe nicht wollen. Sie fühlen sich ohne enge Beziehungen unwohl, haben aber Angst, dass andere sie weniger positiv sehen als sie diese anderen Menschen. Gleichgültig vermeidende Menschen fürchten sich vor engen Beziehungen, wollen sich selbst genügen. Es ist ihnen unangenehm, dass sie andere brauchen und dass andere sie brauchen. Ängstlich Vermeidende wollen zwar enge Beziehungen, fürchten aber verletzt zu werden, wenn sie Nähe zulassen.
Wie lassen sich Bindungsstörungen behandeln?
Psychotherapien bei Erwachsenen versprechen nur wenig Erfolg bei Bindungsstörungen. Bei Kindern sind sie wenig sinnvoll, ohne die Bezugspersonen einzubeziehen. Kleine Kinder können ihre Störung bisweilen in Spieltherapien in den Griff bekommen, allerdings nur als stützende Maßnahme. Die erwachsenen Bindungspersonen brauchen in jedem Fall professionelle Beratung und Unterstützung. Letztlich lässt sich die Bindungsstörung nur ausgleichen, indem das Kind eine Umwelt erfährt, die stabil ist und die kindliche Entwicklung fördert.
Da die Bezugspersonen meist Teil des Problems sind (außer zum Beispiel bei langen Aufenthalten im Krankenhaus als Auslöser), hilft es häufig nur, dass Kind aus seinem Umfeld zu entfernen. Erzieher und Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrer und Pflegefamilien müssen über die Störung des Kindes informiert sein und gemeinsam bereits bestehende Probleme in der Entwicklung aufarbeiten. Häufig ist dazu auch ein stationärer Aufenthalt nötig, je nach Schweregrad der Störung.
Ambulante Behandlung
Ambulante Behandlung umfasst die Aufklärung der familiären Bindungspersonen über die Symptome, den Verlauf und die Prognose sowie die Beratung über das Verhalten dem Kind gegenüber mittels Reflexion/Supervision. Hinzu kommt die Beratung von Pädagoginnen und Pädagogen, die mit dem Kind in Kontakt stehen.
Aufklärung des Kindes ist notwendig und passt sich an das Alter und die Verständnisfähigkeit an. Weiterhin sind psychotherapeutische Einzel- und Gruppensitzungen angebracht. Bei bestimmten Entwicklungsstörungen sind funktionelle Therapien wie Logopädie, Ergotherapie oder Krankengymnastik angemessen.
Teilstationäre Behandlung
Hier wird ein Kind zum Beispiel tageweise in der Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht und therapiert. Hierzu bedarf es einer hohen Bereitschaft zur Kooperation durch die Bezugspersonen in der Familie.
Stationäre Behandlung
In schweren Fällen ist eine stationäre Behandlung nötig. Hier kann sich das Kind in ein bindungsstabiles Milieu nicht mehr integrieren, und braucht eine längere Therapie, bis dies wieder möglich ist. (Dr. Utz Anhalt)
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