Impfneid? Wirklich? Über das Warten auf den vermeintlichen Ausbruch aus dem Käfig

Pro oder Kontra Impfneid? Hier finden Sie den Gegen-Kommentar.

In Deutschland haben 32 Prozent der Bevölkerung ihre Erstimpfung erhalten, noch unter 10 Prozent sind vollständig geimpft (Stand: 07. Mai). Dennoch wurden die Lockerungen für vollständig Geimpfte und Genesene nun auch im Bundesrat beschlossen: Ab Sonntag darf diese Gesellschaftsgruppe also tatsächlich endlich aus ihren sprichwörtlichen Käfigen, juhu!

Und wie geht’s Deutschland so? Da posten Menschen in den sozialen Netzwerken oder beschweren sich bei Freunden: "WIR fleißigen guten Menschen haben solidarisch verzichtet, jetzt sollen doch mal die Alten zurückstecken." Der viel diagnostizierte Impfneid macht die Runde. Und da hört bei mir, ganz persönlich, das Verständnis auf.

Ärmere Stadtteile besonders betroffen


Armut ist ein Corona-Risikofaktor: Ein Besuch bei denen, für die eine Impfung besonders wichtig ist

Die Impfpriorisierungen haben einen Grund

"Aha, du bist jetzt auch geimpft? Wieso das denn?" Welche dümmlich Frage, die sich so einfach in unseren Alltag eingeschlichen hat, nur weil man sich vermeintlich benachteiligt fühlt. Ohne Rücksicht auf Verluste wird von bereits Geimpften erwartet, private Details wie diese zu erörtern, um auch ja den Verdacht aus der Welt zu schaffen, sie hätten sich vorgedrängelt. Menschen in allen Altersgruppen können Vorerkrankungen haben, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Personen mit psychischen Krankheiten etwa, denen es häufig sowieso nicht leicht fällt, darüber zu sprechen. Zudem werden die Berechtigten ja nicht nur zu ihrem eigenen Schutz geimpft, sondern auch zum Schutze aller, wie übrigens auch viele priorisierte Berufsgruppen.

Personen in der Pflege, Mitarbeiter:innen in Supermärkten, Apotheken, Drogerien, Postbeamte – das sind die Menschen, die Gott sei Dank Priorität haben, weil sie Kontakt mit vielen Menschen haben und dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft funktioniert. Lasst euch impfen, ich gönne es euch von Herzen.

Die sinnlose Debatte um Lockerungen für Geimpfte

Ähnlich sinnlos ist aus meiner Sicht die Debatte darüber, ob Geimpfte ihre Grundrechte (!) zurückerhalten. Natürlich hat niemand mehr Lust, im Homeoffice zu arbeiten, sofern das überhaupt möglich war. Gerade Jüngere möchten wieder Freunde besuchen, in den Urlaub fahren oder einfach nur ins Fitnessstudio gehen. Natürlich haben wir alle in den letzten 1,5 Jahren etwas verpasst, wobei man oft genug voller Panik zuschauen musste, wie das Leben gerade an einem vorbeizieht. Unzählige Abschlussfeiern, Prüfungen, Geburtstage, die nicht stattfinden konnten.

Doch sind wir Jüngeren nicht auch diejenigen, die vergleichsweise leicht Freunde über Video anrufen können, Online-Spiele spielen, virtuelle Kochabende veranstalten können? Probleme wie Vereinsamung im Alter werden dabei gerne total vergessen, denn "Ich, Ich, Ich sitze ja seit einem Jahr zu Hause". Wir können immerhin draußen Spazierengehen, was Ältere oft auch nicht können. Und die gelegentlichen Besuche bei Freunden, die zählen doch eigentlich nicht, oder? Dabei ist jede:r von uns am Ende dankbar, wenn die eigenen Eltern und Großeltern diese Pandemie überstehen – bestenfalls ohne Long Covid-Symptome.

Und wenn genau diese Leute jetzt zu Hause sitzen, weil sie geschützt sind und damit auch ihren Beitrag geleistet haben – was hat der ungeimpfte Rest davon? Dass noch mehr Existenzen draufgehen, weil die Wirtschaft nicht öffnen darf? Dass einsame, ältere Menschen auch weiterhin einsam bleiben sollen, nur weil jemand seinen Geburtstag unbedingt feiern möchte? Dass depressive Personen noch depressiver werden, weil sie weiterhin zu Hause sitzen sollen und ihr dringend benötigtes Umfeld weiterhin nicht um sich scharen können?

Rentnerdisko, olé

Wir haben hoffentlich noch ein paar Jährchen Zeit, die letzten 15 Monate nachzuholen. Dafür darf meine Oma, wenn sie möchte, auch gerne wieder mit ihren Freundinnen Kaffeeklatsch auf der Tanzfläche irgendeiner Disko halten, wenn sie das glücklich macht (und damit außerdem den Club rettet). Der Sommer, das sagt sogar Karl Lauterbach, verspricht doch mehr als 'fine' zu werden. Wäre diese Aussicht für uns alle nicht noch schöner, wenn wir uns ausnahmsweise mal gegenseitig etwas gönnen würden? Seit dieser Woche gibt es Astrazeneca für alle, ab Juni gibt es alle Impfstoffe für alle. Wenn das mal nicht das rettende Licht am Ende des Tunnels ist. Lasst uns die Zeit bis dahin nicht mit negativem Gemotze überbrücken, denn früher oder später kommen wir alle dran.

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