Vor sechzehn Jahren gab es in Deutschland eine Revolution, deren Name keiner kennt. An unseren Krankenhäusern wurde ein völlig neues Abrechnungssystem eingeführt, die „Fallpauschalen“. Jeder bekommt sie zu spüren, der heute eine Klinik betritt. Wir tragen dort unsichtbare Preisschilder auf der Stirn. Die Verdachtsdiagnose entscheidet darüber, wie interessant wir für das Haus sind. Ob man uns besser aufnehmen oder wenn irgend möglich unter Vorwänden weiterschicken sollte. Eine Kopfwehattacke ist weniger wert als ein Magengeschwür. Dieses ist weniger wert als ein Herzinfarkt. Einen Beinbruch sollte man möglichst operieren – denn das Gipsen ist aus der Sicht vieler Krankenhausgeschäftsführer vergeudetete Zeit, in der ein Arzt mehr Umsatz machen könnte. Das große Los für die Klinik ist finanziell gesehen ein Krebspatient. Wie konnte es zu diesen Misständen kommen?
Darüber sprach der stern mit mehr als 100 Medizinern aus ganz Deutschland – mit Assistenzärztinnen, Klinikdirektoren, Präsidentinnen von Fachgesellschaften und von Ärztekammern, mit Medizinethikern. Viele erleben dramatische Missstände, sieben Augenzeugenberichte sind heute in der Print-Ausgabe des stern zu lesen, einer davon hier. Fast alle Ärztinnen und Ärzte nannten zwei Ursachen für die Misere: Extremen ökonomischen Druck und das „Fallpauschalen-System“, für das Diagnosen in „Fallgruppen“ gruppiert und pauschal vergütet werden – nach der Faustregel: Je höher der Aufwand, desto mehr Geld.
Der fatale Effekt: Patienten rechnen sich – egal wie krank sie sind – in diesem System vor allem, wenn an ihnen viele „Prozeduren“ durchgeführt werden. In der Fallpauschalen-Logik sind das alle Eingriffe von einer Spritze über Magenspiegelungen bis hin zu großen Operationen. Nicht ökonomisch interessant ist es, wenn Krankenhausärzte mit Patienten sprechen, über die richtige Diagnose nachdenken und in der Fachliteratur nachforschen, oder wenn sie Patienten erst beobachten, bevor sie in ungezielten Aktionismus verfallen. Die Missstände sind so gravierend, dass sich heute 215 Ärztinnen und Ärzte als Einzelpersonen sowie 19 Organisationen geschlossen hinter den Ärzte-Appell stellen, der heute zeitgleich in der Printausgabe des stern und online erscheint.
Der Ärzte-Appell: Rettet die Medizin!
Krankenhäuser sollen für das Dasein vorsorgen genauso wie die Polizei oder Feuerwehr. Der Staat muss die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass das Menschenrecht auf Gesundheitsfürsorge gewährleistet ist. Es darf nicht länger passieren, dass Krankenhäuser Gewinne für nötige Anschaffungen ausgeben und dafür am Personal sparen – weil der Staat ihnen seit Jahren Finanzmittel vorenthält, um unrentable Einrichtungen „auszuhungern“. Es ist fahrlässig, Krankenhäuser und damit das Schicksal von Patientinnen und Patienten den Gesetzen des freien Marktes zu überlassen. Niemand würde fordern, dass die Polizei oder Feuerwehr schwarze Nullen oder Profite erwirtschaften müssen. Warum also Krankenhäuser?
Die Führung eines Krankenhauses gehört in die Hände von Menschen, die das Patientenwohl als wichtigstes Ziel betrachten. Deshalb dürfen Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften keine Entscheidungsträger vorgesetzt sein, die vor allem die Erlöse, nicht aber die Patientinnen und Patienten im Blick haben. Aber auch manche Ärztinnen und Ärzte selbst ordnen sich zu bereitwillig ökonomischen und hierarchischen Zwängen unter. Wir rufen diese auf, sich nicht länger erpressen oder korrumpieren zu lassen.
Das Fallpauschalensystem, nach dem Diagnose und Therapie von Krankheiten bezahlt werden, bietet viele Anreize, um mit überflüssigem Aktionismus Rendite zum Schaden von Patientinnen und Patienten zu erwirtschaften. Es belohnt alle Eingriffe, bei denen viel Technik über berechenbar kurze Zeiträume zum Einsatz kommt – Herzkatheter-Untersuchungen, Rückenoperationen, invasive Beatmungen auf Intensivstationen und vieles mehr. Es bestraft den sparsamen Einsatz von invasiven Maßnahmen. Es bestraft Ärztinnen und Ärzte, die abwarten, beobachten und nachdenken, bevor sie handeln. Es bestraft auch Krankenhäuser. Je fleißiger sie am Patienten sparen, desto stärker sinkt die künftige Fallpauschale für vergleichbare Fälle. Ein Teufelskreis. So kann gute Medizin nicht funktionieren.
Der Arbeitstag im Zeitalter der Fallpauschalen und der Durchökonomisierung der Medizin ist bis zur letzten Minute durchgetaktet. Nicht einberechnet ist der auf das Mehrfache angestiegene Zeitaufwand für Verwaltungsarbeiten. Nicht einberechnet ist die Zeit für die Weiterbildung junger Ärztinnen und Ärzte und für die immer wichtigeren Teambesprechungen. Vor allem nicht einberechnet sind Patientinnen und Patienten, die viele Fragen haben oder Angst vor Schmerzen, Siechtum und dem Tod. Wenn aber mit den Kranken nie ausführlich gesprochen wird, können Ärztinnen und Ärzte nicht erfassen, woran sie wirklich leiden. Wenn diese Patientinnen und Patienten entlassen werden, verstehen sie weder ihre Krankheit, noch wissen sie, wofür die Therapie gut ist. Das Diktat der Ökonomie hat zu einer Enthumanisierung der Medizin an unseren Krankenhäusern wesentlich beigetragen.
Unsere Forderungen:
1. Das Fallpauschalensystem muss ersetzt oder zumindest grundlegend reformiert werden.
2. Die ökonomisch gesteuerte gefährliche Übertherapie sowie Unterversorgung von Patienten müssen gestoppt werden. Dabei bekennen wir uns zur Notwendigkeit wirtschaftlichen Handelns.
3. Der Staat muss Krankenhäuser dort planen und gut ausstatten, wo sie wirklich nötig sind. Das erfordert einen Masterplan und den Mut, mancherorts zwei oder drei Kliniken zu größeren, leistungsfähigeren und personell besser ausgestatteten Zentren zusammenzuführen.
Die Unterstützer:
Sind Sie Ärztin oder Arzt?
Falls Sie den Mediziner-Appell namentlich unterstützen wollen, schreiben Sie uns bitte an [email protected]. Die Liste der Unterzeichner wird auf stern.de veröffentlicht. Sollten Sie Beispiele beobachten, die zeigen, wie wirtschaftliche Zwänge ärztliche Entscheidungen beeinflussen, schreiben Sie uns gern auch dies. Wir nehmen dann vertraulich Kontakt zu Ihnen auf.
Die Entstehungsgeschichte:
Der Ärzte-Appell entstand auf der Basis der Positionspapiere zahlreicher hochrangiger Institutionen – darunter ein „Ärzte-Codex“, der allein schon von 30 Organisationen unterstützt wurde – in Absprache mit vielen an diesen Positionspapieren Beteiligten. Es gab Diskussionen und Änderungswünsche, von denen viele in den Text einflossen. Die einen hatten Einwände gegen die Formulierung, dass „manche“ Ärzte „korrumpiert“ werden – weil sie einem Zugeständnis gleichkomme, dass dies wirklich passiere. Anderen war „manche“ angesichts der Verbreitung der umstrittenen Bonusverträge zu wenig. Auch bei den Fragen, ob die Fallpauschalen abgeschafft oder nur „grundlegend reformiert“ werden und wie viele kleinere Krankenhäuser zusammengeführt (also auch: geschlossen) werden müssten, teilten sich die Unterstützer in zwei Lager. Der Ärzte-Appell ist der gemeinsame Nenner, auf den sich ein breites Spektrum von Akteuren im Gesundheitswesen mit unterschiedlichen Eigeninteressen einigte. Alle verbindet die Erkenntnis: So darf es nicht weitergehen.
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