Das Coronavirus wird früher oder später endemisch. Das betonen Experten seit Monaten. FOCUS Online erklärt, warum dieser Zustand das Virus nicht automatisch harmlos macht – und was er für die Infektionszahlen bedeutet.
Die Verbreitung der Omikron-Variante birgt laut Experten die Chance, dass die gegenwärtige Pandemie in eine Endemie übergeht. „Es gibt schon ein biologisches Drehbuch für Viren“, sagte etwa der Leipziger Infektiologe Christoph Lübbert der „Leipziger Volkszeitung“. Je länger eine Pandemie andauere, desto ansteckender werde der Erreger, aber desto mehr passe er sich auch an den menschlichen Wirt an und schwäche sich virologisch ab.
Experten rechnen bald mit Eintritt in endemische Phase
Ein zweiter Effekt sei, dass der Organismus Immunität über verschiedene Infektionswellen und mehrfaches Impfen entwickele, schilderte Lübbert. „Nach diesem Drehbuch wären wir vielleicht nächstes Jahr in der Endemie, spätestens das Jahr darauf.“ Mit viel Glück und deutlicher Steigerung der Impfquote könne eine solche Situation auch noch dieses Jahr erreicht werden.
„Wir können in der Omikron-Wand eine Tür öffnen und vielleicht den Weg von der Pandemie in die Endemie gehen“, schrieb auch Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Montag auf Twitter.
Mehr zur Omikron-Variante
Das Robert-Koch-Institut (RKI) definiert eine Endemie als eine „in einer Gegend heimische Krankheit, von der ein größerer Teil der Bevölkerung regelmäßig erfasst wird.“ Aber wann wird ein Virus eigentlich endemisch? Und was bedeutet dieser Zustand für unser Infektionsgeschehen? FOCUS Online hat bei zwei Experten nachgefragt.
„Endemisch“ bedeutet nicht „harmlos“
„Endemisch heißt, dass die epidemiologische Lage mehr oder wenig im Gleichgewicht ist“, erklärt Mathematiker Kristan Schneider. „Abgesehen von saisonalen Schwankungen gibt es also keine auffallenden Anstiege der Infektionszahlen mehr.“ Dass das Virus dann verschwunden ist, bedeute das allerdings nicht. „Wenn die Rede von einer Endemie ist, denken die meisten Menschen, es gebe dann zwar das Virus, es infiziere sich aber kaum einer mehr“, führt Schneider gegenüber FOCUS Online aus. Das Gegenteil ist jedoch der Fall.
„Endemisch heißt, das Virus bleibt für immer“, erklärt Virologe Friedemann Weber. „Das Virus wird in dieser Region dann nicht mehr weggehen.“ Infektionskrankheiten wie Malaria oder HIV seien beispielsweise in Afrika endemisch. Und dort sind diese Krankheiten keineswegs harmlos: „Dass ein Virus endemisch ist, bedeutet also nicht automatisch einen Vorteil“, betont Weber. „Es heißt nicht, dass es harmlos ist.“
Zur Person
Friedemann Weber ist Professor für Virologie und leitet als Direktor das entsprechende Institut an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. Dort forscht er unter anderem zu Corona- und Influenzaviren.
Wie gefährlich das Virus für die Gesellschaft ist, hängt laut Mathematiker Schneider davon ab, welche Prävalenz das Virus habe. Die Prävalenz gibt an, wie viele Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einer bestimmten Krankheit erkranken. „Bei chronischen Krankheiten wie etwa Toxoplasmose haben wir beispielsweise eine Prävalenz von 50 Prozent, die hat, unwissend oder wissend, jeder zweite“, erklärt der Daten-Experte. Auch bei HPV liege der Wert bei bis zu 60 Prozent.
Mathematiker: In Covid-Endemie könnte es 60.000 Fälle pro Tag geben
Bei Covid gehen Wissenschaftler hingegen von einem deutlich niedrigeren Wert aus, „den genauen Wert kennen wir aber nicht“, so Schneider. Aber auch ein kleiner Wert, etwa von einem Prozent, sei nicht zu unterschätzen: „Ein Prozent Prävalenz hieße beispielsweise 830.000 Menschen sind aktiv infiziert“, erklärt er. „Das entspricht etwa 60.000 Neuinfektionen pro Tag. Und damit dem Gipfel der vierten Welle, und das täglich.“
Zwar könne es wie eingangs erwähnt saisonale Schwankungen geben. „Dann sind es vielleicht im Sommer nur 40.000 Neuinfektionen, im Winter dafür dann 200.000 pro Tag“, erklärt er. Die Anzahl der Neuninfektionen, die wir jetzt noch unter relativ starken Kontaktbeschränkungen haben, seien demnach „auch in einem endemischen Szenario nicht auszuschließen“, erklärt der Mathematiker.
Zur Person
Kristan Schneider ist ein österreichischer Mathematiker der Angewandten Mathematik mit dem Forschungsschwerpunkt Modellierung epidemiologischer Prozesse. Seit vielen Jahren forscht er an Infektionskrankheiten, etwa Malaria. Seit Beginn der Corona-Pandemie widmet er sich Sars-CoV-2 in seinen Prognosen. Schneider lehrt Statistik und Mathematik an der Hochschule Mittweida.
Wann Endemie eintritt, ist unklar
Wie Virologe Weber betont, befinden wir uns aber gegenwärtig noch nicht in einer Endemie. Der große Unterschied liege darin, dass wir noch immer einen starken Anstieg der Fallzahlen sehen, nach der Trendwende wohl einen starken Abfall. Das Gleichgewicht, welches auch Statistiker Schneider als Kriterium für die Endemie nannte, haben wir also noch nicht erreicht.
Warum Experten und Politiker dennoch auf das Ende der Pandemie und den Anfang der Endemie hoffen, erklärte etwa Virologe Christian Drosten schon mehrfach im NDR-Podcast. In einer endemischen Lage verbreite sich das Coronavirus zwar weiter, das mache aber den allermeisten nichts mehr aus. Es gebe dann nur sehr wenige schwere Verläufe oder Todesfälle. „Und wann dieser Zeitpunkt ist, das liegt an uns. Und das liegt an der Impfquote“, so Drosten.
Schützt Novavax vor Omikron? Virologe sagt, was wir zur Wirksamkeit wissen
FOCUS Online/Wochit Schützt Novavax vor Omikron? Virologe sagt, was wir zur Wirksamkeit wissen
Quelle: Den ganzen Artikel lesen