Sie wollte sich von einer Brücke stürzen und von einem Dach springen – mit 17 erkrankt Ariane Timm an Schizophrenie. Aggressive Stimmen in ihrem Kopf beeinflussen von da an ihr Denken und ihr Handeln – doch das Mädchen schafft es, die Kontrolle wieder zu erlangen.
Ariane Timm konnte gerade noch durch ein Toilettenfenster entwischen. Jetzt liegen fünf Stockwerke vor ihr. Völlig von Sinnen klettert das 17-jährige Mädchen die Feuertreppe eines Hotels hinauf. Sie möchte zu den Vögeln auf dem Dach, es ihnen gleichtun und mit ihnen fliegen. Die Stimmen sagen ihr, dass sie das kann. Unablässig klettert sie weiter, überwindet Stufe um Stufe. Gerade als Timm von einer Brüstung springen möchte, packt sie eine Hand von hinten. Es ist ihre Lehrerin. Sie ist gerade noch rechtzeitig zur Stelle um die Schülerin von dem Sprung abzuhalten.
Zu diesem Zeitpunkt weiß das Mädchen noch nicht, was in ihrem Kopf vor sich geht. „Ich hätte mich fast getötet, obwohl ich es nicht wollte“, sagt Timm im Blick auf die Vergangenheit. Der Grund für ihr widersprüchliches Verhalten hat einen Namen: paranoide Schizophrenie.
Was die Schizophrenie nicht ist: Eine gespaltene Persönlichkeit. „Schizophrenie“ ist ein Sammelbegriff für unterschiedliche psychische Störungen, die sich einerseits durch ein Nachlassen der Leistungsfähigkeit und andererseits durch Symptome wie Wahn und Halluzinationen äußern. Diese psychischen Erkrankungen prägen sich bei jedem Menschen unterschiedlich aus. Die paranoid-halluzinatorische Schizophrenie ist die am häufigsten auftretende Form. Betroffene nehmen die Realität verzerrt wahr – sie haben etwa falsche Sinneseindrücke oder denken sie werden verfolgt. Entsprechend handeln sie auch. Manche Betroffene erkranken nur einmal, andere werden ihr Leben lang von der Erkrankung begleitet. Viele kommen aber dank heutiger Behandlungsmöglichkeiten gut mit der dauerhaften Belastung zurecht.
Rätselhafte Depressionen
Die Krankengeschichte von Timm beginnt vermutlich schon lange vor der brenzligen Situation auf dem Hoteldach. Seit sie ein Teenager ist, gibt es immer wieder Phasen depressiver Verstimmungen in ihrem Leben. Gefühle, für die das junge Mädchen keine Erklärung hat. „Wer würde mich denn vermissen“ ist einer der quälenden Gedanken, die sie in ihrem Tagebuch festhält. Dann, im Alter von 17 Jahren, hat sie Anzeichen einer ernsthaften Depression. „Wenn man mehrere Verläufe vergleicht, fällt oft auf, dass Schizophreniepatienten vor ihrer Erkrankung bereits durch eine Depression auffällig wurden“, sagt Hans Förstl, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in München.
Zu dieser Zeit geht Timm in die zwölfte Klasse, steht kurz vor dem Abitur. Neben dem Schulalltag jobbt sie in einem Fastfood-Restaurant und fühlt sich gestresst. Die Schülerin zieht sich immer mehr zurück und vernachlässigt ihr Sozialleben. Ihr geht es zunehmend schlechter, sie weint viel, hat kaum noch Appetit und ist ständig erschöpft. Auch Timms Mutter bemerkt die drastischen Veränderungen des Wesens ihrer Tochter und schickt sie deshalb zu ihrer Hausärztin. Dort erleidet Timm einen Nervenzusammenbruch.
Die Frühwarnzeichen einer Schizophrenie sind sehr unspezifisch und können deshalb häufig nicht genau zugeordnet werden. Betroffene fühlen sich antriebslos, haben über einen längeren Zeitraum eine gedrückte Stimmung und ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück.
Wieder Zuhause machen sich Mutter und Tochter auf die Suche nach einem Therapeuten. In Deutschland müssen gesetzlich Krankenversicherte durchschnittlich sechs Wochen warten, bis sie überhaupt ein erstes Gespräch mit einem Psychotherapeuten führen können.
Die Abschlussfahrt von Timms Klasse rückt währenddessen immer näher. Eigentlich fühlt sich die Schülerin nicht in der Lage daran teilzunehmen. Doch ihre Mutter ist alleinerziehend und hat lange für die Fahrt gespart. Also gibt sich Timm einen Ruck und beschließt trotz ihres Gemütszustandes und ohne vorheriges Therapiegespräch mitzufahren. „Ich habe das damals als nicht so gefährlich wahrgenommen“, erklärt sie.
Erste Anzeichen einer beginnenden Psychose
Die Fahrt geht nach Brüssel – im Reisebus. Schon davor hat Timm Verdauungsprobleme. Im Bus muss sie dann dringend auf die Toilette, kann sich aber nicht überwinden vor ihren Klassenkameraden zu gehen. Im Hotel setzt sich dieses Verhalten fort. Sie hat eine mentale Blockade und steigert sich ungewöhnlich in die Situation hinein, hyperventiliert sogar. „Ich dachte ich werde sterben, wenn ich es nicht schaffe, aufs Klo zu gehen“, sagt Timm heute. Im Nachhinein betrachtet findet sie diese Reaktion total übertrieben – doch ihr damaliges Verhalten drückt wohl eine erste wahnhafte Wahrnehmungveränderung aus.
Timms Lehrerin schafft es aber, das Mädchen wieder zu beruhigen. Schließlich kann die Schülerin doch auf die Toilette gehen und fühlt sich besser. In der darauffolgenden Nacht hat sie wirre Träume. Am nächsten Tag steht eine Besichtigungstour durch Brüssel auf dem Programm. Als die Schüler gerade an einem Aussichtspunkt angekommen sind, hört Timm zum ersten Mal die Stimmen. Ein französisches Pärchen in ihrer Nähe scheint plötzlich deutsch sprechen zu können und über sie herzuziehen. Auch das ignoriert Timm erstmal. Dann kommen auch erste Anzeichen einer Paranoia hinzu. Das Mädchen denkt plötzlich alles in ihrer Umgebung möchte sie verletzen oder sogar umbringen. Gedanken wie: „Der Kran wird umfallen und mich erschlagen“, „Die Schwäne werden mich tothacken“, „Die Kutsche wird mich überfahren“, kommen der Schülerin in den Sinn.
Die psychologischen Symptome einer Schizophrenie stehen im Zusammenhang mit biologischen Stoffwechselstörungen im Gehirn. Es kommt zu einem Ungleichgewicht der Botenstoffe und zu Problemen bei der Informationsverarbeitung. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Botenstoff Dopamin, umgangssprachlich auch als Glückshormon bezeichnet. „Dieses Hormon ist entscheidend an der Bewertung und Verstärkung von Informationen beteiligt“, erklärt Psychiater Hans Förstl.
Wissenschaftler sind sich immer noch nicht sicher, wie es zu dieser Stoffwechselstörung kommt. Ein wichtiger Aspekt ist wohl die genetische Veranlagung. Es gibt aber nicht das eine Schizophrenie-Gen – das Zusammenspiel mehrerer Gene macht den Unterschied. Laut dem Psychiater beeinflussen zusätzlich auch bestimmte Umgebungsfaktoren das Risiko einer Schizophrenie. Etwa eine gestörte Hirnentwicklung durch Komplikationen bei der Geburt oder Schäden am Gehirn durch den Konsum von Drogen wie Cannabis. Belastende Lebensereignisse wie ständiger Stress und Druck im Job oder der Verlust eines Angehörigen können zusätzlich zur Entwicklung der Krankheit beitragen.
Entfesselte Stimmen im Kopf
Auf dem Aussichtspunkt in Brüssel waren die Aussagen des französischen Pärchens zwar nicht real, sondern nur Stimmen in Ariane Timms Kopf. Doch schienen sie von realen Personen zu kommen. Allerdings hört Timm im Laufe des Tages auch Stimmen, die niemandem zuzuordnen sind. Später wird sich Timm nur noch bruchstückhaft an sie erinnern. Was die Stimmen ihr genau sagten, weiß sie heute nicht mehr. Sie weiß nur noch, dass sie schrien, zum größten Teil männlich und aggressiv waren und sie dazu drängten, sich etwas anzutun. Die Stimmen rieten ihr etwa, sich von einer Brücke zu stürzen.
Timms Mitschüler können sie noch vom Sturz abhalten. Doch sie sind mit ihrem Verhalten überfordert, genauso wie die Lehrerin. Sie ruft deshalb Timms Mutter an und bittet sie, ihre Tochter abzuholen. Während ihre Mutter unterwegs ist, geht das Mädchen auf die Toilette. Sie ist davon überzeugt, jeder in ihrem Umfeld möchte ihr etwas antun. Deshalb flieht sie über das Fenster nach draußen, steigt die Feuertreppe nach oben und wird in letzter Sekunde von ihrer Lehrerin vom waghalsigen Sprung aus dem fünften Stock abgehalten.
Als Timms Mutter eintrifft, hat die 17-jährige sogar vor ihr Angst, unterstellt ihr, sie umbringen zu wollen. Trotzdem steigt sie zur Mutter ins Auto, die auf direktem Weg von Brüssel zu einer Klinik nach Marburg fährt. Währenddessen ist Timms Psychose immer noch standhaft. Auf der Autobahn ist das Mädchen davon überzeugt, vorbeifahrende Lastwagen würden Menschen vergasen.
Timm kommt in psychiatrische Behandlung
Dieser Zustand hält sich bis zur Ankunft im Krankenhaus. Dort machen die Ärzte sofort eine Reihe von Tests – MRT, EKG, Hirnstrommessungen – alles, um eine körperliche Erklärung für Timms Verhalten auszuschließen. Sie finden nichts. Die 17-Jährige wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die Untersuchung und bekommt deshalb ein Beruhigungsmittel verabreicht. Fragen zu ihrer Person kann Timm nicht beantworten – sie weiß nicht mehr, wer sie ist. Also überweisen die Ärzte sie in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Dort diagnostizieren die Psychologen erstmals eine Psychose, später eine paranoide Schizophrenie.
„Die Schizophrenie ist keine seltene Krankheit, sondern etwa so häufig wie chronisches Rheuma“, sagt die deutsche Psychotherapeuten Kammer. Weltweit leiden geschätzt 50 Millionen Menschen unter der psychischen Krankheit – in Deutschland sind es rund 800.000. Einer von 100 Erwachsenen erkrankt im Laufe seines Lebens an einer Schizophrenie. Beide Geschlechter sind gleichermaßen von der Krankheit betroffen. Sie tritt meist erstmals im frühen Erwachsenenalter auf – das Durchschnittsalter der Ersterkrankung liegt zwischen 20 und 30 Jahren.
Nachdem die Diagnose gestellt wurde, geht es darum die richtige Medikamenteneinstellung für Timm zu finden. Sie bekommt Antidepressiva gegen Depressionen und Neuroleptika gegen den Wahn und den Realitätsverlust. Beide gehören zur Gruppe der Psychopharmaka und wirken, indem sie die Abläufe zwischen den Nervenzellen im Gehirn verändern. Sie beeinflussen zum Beispiel den Dopamin- und Serotoninstoffwechsel. Die Psychopharmaka dämpfen die übersteuernde Wirkung des Dopamins ab und verstärken den ausgleichende Effekt vom Neurotransmitter Serotonin, beschreibt der Psychiater Hans Förstl den Einfluss der Medikamente auf das Gehirn. Nebenwirkungen können eine Gewichtszunahme, andauernde Müdigkeit oder Probleme mit der Konzentration sein. Bis die Medikamente richtig dosiert sind, vergeht eine Woche, in der Timm immer noch unter Psychosen leidet. Sie hat Halluzinationen, sieht zum Beispiel ein Mädchen im Nachthemd, das eigentlich nicht da ist. Dann entfalten die Neuroleptika ihre Wirkung und Timm begreift zum ersten Mal, was mit ihr passiert ist.
Am meisten ängstigt Timm der Gedanke, nicht zu wissen, wieso ausgerechnet sie, ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt erkrankt ist. Es gibt keinen konkreten Auslöser, den sie in Zukunft vermeiden könnte, um nicht wieder eine Psychose durchmachen zu müssen. Die Angst vor einem nächsten Schub ist immer da. „Das lässt einen nicht mehr schlafen – immerhin hätte ich mich fast umgebracht obwohl ich stets ein lebensfroher Mensch war“, erzählt Timm. Außerdem machen ihr die Psychopharmaka zu schaffen. Sie nimmt zu und ist oft müde. Ihre Motorik ist stark eingeschränkt, sie kann nicht normal laufen oder schreiben.
Angehörige psychisch kranker Menschen können das Beratungs- und Hilfsangebot des Bundesverbands der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Anspruch nehmen. Unter der Mail-Adresse seelefon(at)psychiatrie.de und der Rufnummer 01805 950 951 und der Festnetznummer 0228 71 00 24 24 ist das sogenannte „SeeleFon“ zu erreichen. Eine erste Antwort erfolgt wochentags innerhalb von 48 Stunden. Es ist ein Informationsangebot und kein Ersatz für eine Therapie oder langfristige Begleitung.
„Ich darf der Krankheit keine Macht geben“
Nach zwei Wochen wechselt Timm in eine offene Psychiatrie in Büdingen, in der Nähe ihrer Heimat. Dort führt sie viele Gespräche mit Psychiatern, Therapeuten, Ärzten und Pflegern. Ihr Tagesablauf ist durchgeplant – Morgensport, Ergotherapie, Gesprächsrunden und dazwischen immer wieder Ausgang. Die Struktur, die Medikamente und die psychische Begleitung helfen ihr allmählich wieder auf die Beine. Als Timm ein halbes Jahr später die Psychiatrie endgültig verlässt, ist ihr Blick fest in die Zukunft gerichtet. Zwar muss sie zuerst mehrere berufliche Rückschläge einstecken, doch schließlich schafft sie es, einen Ausbildungsplatz in einer Kanzlei zu bekommen.
Ob die Psychosen wiederkommen oder nicht, kann ihr niemand sagen. Denn eine individuelle Vorhersage des Krankheitsverlauf über längere Zeiträume ist nicht sicher möglich, sagt auch der Psychiater Hans Förstl. Nach fünf Jahren gilt das Rückfallrisiko jedoch als sehr gering. Timm hat bis dahin ein Ziel: ohne Angst und ohne Medikamente zu leben: „Wenn ich mir nicht so viele Gedanken mache, hat die Schizophrenie nicht so eine Macht über mich. Ich darf der Krankheit keine Macht geben.“
Einen Großteil des Weges hat Ariane Timm schon geschafft. Die Dosierung ihrer Neuroleptika ist um ein Vielfaches geringer als zu Beginn der Behandlung. In einem Jahr erreicht sie die ersehnte Fünf-Jahres-Grenze und kann ganz auf die Psychopharmaka verzichten. Im Rückblick sagt Timm, sei sie jetzt ein glücklicherer Mensch. „Mein Selbstbewusstsein war total im Keller. Ich habe mich dafür gehasst, dass ich krank geworden bin. Jetzt bin ich stolz darauf, was ich in den letzten Jahren geschafft habe“, erzählt die heute 21-jährige. „Ich bin einigermaßen gesund, habe viele Hürden gemeistert und stehe wieder im Leben“.
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