Immunität, Dunkelziffer, Testgenauigkeit: Mediziner entflechtet Corona-Fakten-Wirrwarr

Sind alle Geheilten immun gegen Corona? Wie genau sind die Tests? Und wie hoch ist die Dunkelziffer. Michael Hölscher soll Antworten auf diese Fragen liefern. Dazu leitet er eine Studie mit 3000 Teilnehmern in München. Noch stehen die Forschungen des Leiters des Tropeninstituts der Ludwig-Maximilian-Universität am Anfang. Doch er erklärt in einem Interview mit der „Zeit“, wovon seine Forschung ausgeht.

Corona-Immunität

Viele Menschen stellen sich die Frage, ob sie nach einer überstanden Corona-Erkrankung immun gegen das Virus sind – und wie lange. "Das wissen wir bis heute noch nicht sicher", erklärt Hölscher, der am Tropeninstitut für Infektions- und Tropenmedizin zuständig ist. Der Körper sorge für eine Immunantwort gegen das Virus. Ob dieses aber vor einer erneuten Ansteckung schützt und ob der Genesene dann wirklich nicht mehr selbst ansteckend ist, sei noch ungewiss.

Viren seien hier sehr unterschiedlich, erklärt Hölscher in der "Zeit". Wer einmal Masern hatte, sei wahrscheinlich sein ganzes Leben immun. Beim HI-Virus hingegen entwickle man gar keine Immunität. Und bei der Grippe und anderen Viren wirken die Antikörper häufig nur ein bis anderthalb Jahre.

Hölscher hofft, dass es bei Corona sogar einen mehrjährigen Schutz gibt. Und darauf, dass eine erneute Erkrankung nach Ende der Immunität ähnlich wie bei anderen Viren deutlich leichter verlaufe als beim ersten Mal. Er sagt der "Zeit" jedoch klar: "Zum heutigen Zeitpunkt würde ich nach einem positiven Antikörpertest nicht raten, sich zu sagen: Ich kriege das Ding nie wieder, und ich kann mich hemmungslos in das Sozialleben stürzen."

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Dunkelziffer

Aktuell liegt die Zahl der Infizierten in Deutschland bei mehr als 120.000. Doch dies sind nur die positiv getesteten. Viele Menschen haben keine Symptome und werden deshalb überhaupt nicht getestet oder bemerken die Krankheit nicht einmal. Dazu kommt: Hat in einem Haushalt ein Mensch Corona, werden die anderen gar nicht mehr getestet. Das führt zu einer hohen Dunkelziffer an Corona-Fällen.

Doch wie hoch ist diese Dunkelziffer wirklich? Einige Experten gehen von 10 bis 20 Mal so vielen Infektionen aus. Hölscher sagt dazu der "Zeit": "Ich glaube, dass sich maximal zweieinhalb- bis fünfmal so viele Menschen infiziert haben, als wir durch die jetzigen Tests wissen." Er hält die Dunkelziffer für niedrig, weil sich zu Beginn der Epidemie in Deutschland sehr viele Menschen haben testen lassen.

Nun aber werden weniger Menschen Symptome verspüren, weil Grippewelle und Erkältungszeit vorüber sind. Dazu kommt, dass viele Menschen seit langem zuhause verharren und eine Ansteckung unwahrscheinlich ist. Deshalb würden sich nun deutlich weniger Bürger testen lassen – und folglich die Dunkelziffer vermutlich ansteigen, so Hölscher.

Hölscher und sein Team begleiten in einer Kohortenstudie über einen längeren Zeitraum 3000 repräsentative Haushalte in München mit insgesamt 4500 Menschen. 12 Monate lang werden die Forscher ihre Probanden immer wieder besuchen. Die Teilnehmer werden auf Covid-19 getestet. Zudem werden sie zu ihrem Verhalten während der Ausgangsbeschränkungen gefragt. Somit erhoffen sich die Wissenschaftler unter anderem Erkenntnisse über die tatsächliche Verbreitung des Virus, die Immunität von Erkrankten, den Verlauf der Krankheit bei verschiedenen Gruppen. Hölscher betont, dass seine Studie eine von vielen weltweit sein soll, die ein besseres Bild des Coronavirus verschaffen.

Herdenimmunität

Experten gehen davon aus, dass es zwei Enden der Epidemie in Deutschland gibt. Entweder es wird ein Impfstoff gefunden, der flächendeckend einsetzbar ist. Oder es wird eine Herdenimmunität erreicht. Wenn 60 bis 70 Prozent der Menschen immun gegen Corona wären, könnte die Verbreitung gestoppt werden. Doch wie weit ist die Herdenimmunität bislang fortgeschritten.

Selbst unter Berücksichtigung der Dunkelziffer ist Hölscher wenig optimistisch in diesem Punkt: "In ganz Deutschland werden wir derzeit maximal bei einer Durchseuchung von einem halben bis einem Prozent der Bevölkerung liegen", sagt der Mediziner im "Zeit"-Interview. Viele würden sich wünschen, dass wir schon bei zehn Prozent wären. "Das glaube ich nicht." Weil das Virus noch nicht so weit verbreitet sei, lohne sich auch noch kein einmaliger deutschlandweiter Test, um die Fortschreitung der Herdenimmunität festzustellen, so Hölscher. 

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Testgenauigkeit bei Covid-19-Patienten

Angenommen die Forschung findet heraus, dass genesene Covid-19-Patienten alle immun gegen das Virus sind. Dann wäre es eine Möglichkeit, diese Menschen wieder ins soziale Leben zu schicken. Doch wie genau sind die Tests überhaupt, die Corona diagnostizieren – die sogenannte Testspezifität? "Wenn man 100 Menschen testet, die noch nie Kontakt zu dem Sars-CoV-2 Virus hatten, sollten alle Ergebnisse negativ anzeigen", erklärt Hölscher. "Das ist aber bei keinem Test so."

Die aktuellen Corona-Tests lägen in 1 von 10 Fällen (schlechte Tests) beziehungsweise 1 von 50 Fällen (gute Tests) falsch. Würde man sich auf einen Test verlassen, dann könnte es sein, dass Menschen für immun erklärt werden, die die Krankheit nie hatten. Andersherum könnten natürlich auch Menschen für nicht infiziert gehalten werden, die das Virus längst hinter sich und Antikörper gebildet haben.

Man entwickle deshalb aktuell kombinierte Testverfahren, die die Testgenauigkeit deutlich erhöhen soll. Zeithorizont: "Vier Wochen", sagt Hölscher der "Zeit".

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Lockerung der Corona-Maßnahmen

Ungeachtet all dieser Erkenntnisse wartet ganz Deutschland aktuell darauf, wann die harten Corona-Maßnahmen wieder gelockert werden. Auch hierzu hat Hölscher eine Prognose. Er glaubt daran, dass zunächst Jugendliche und Studierende wieder "ins normale Leben zurückkommen". Weiter sagt er: "Als arbeitende Bevölkerung werden wir uns über Monate mit Mundschutz im öffentlichen Leben bewegen."

Weiterhin sei es dann dringlichste Aufgabe, die älteren Menschen und Risikogruppen zu schützen. Dabei habe Deutschland aber einen großen Vorteil gegenüber anderen – vor allem südeuropäischen – Ländern. Der Tropenmediziner sagt dazu der "Zeit": "Wir haben andere Sozialstrukturen. Schauen Sie sich an, wie in Italien die Familien zusammenleben, über drei Generationen. In München haben wir pro Haushalt 1,5 Menschen, so traurig das in normalen Zeiten ist, aber in diesem Augenblick kommt uns diese Situation."

  

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