„Zeig mir deins und ich zeig dir meins“: Sogenannte Doktorspiele kommen bei Kindern häufig vor – und gelten als normal. Doch manchmal gehen sie zu weit. In einer Kölner Kita sollen zwei Fünfjährige andere Kinder sexuell bedrängt haben, von „Piks-Spielen“ ist unter anderem die Rede. Mehr zu den Vorwürfen lesen Sie hier.
Immer wieder werden Kinder angezeigt, weil sie sich an anderen Kindern vergriffen haben sollen. 115 Kindern unter 14 Jahren wurden 2017 sexuelle Übergriffe, Nötigung oder Vergewaltigung vorgeworfen, so die Polizeiliche Kriminalstatistik. Damit machen sie etwa ein Prozent der Tatverdächtigen aus.
Die Entwicklungspsychologin Bettina Schuhrke beschäftigt sich seit Jahren mit Körperentdeckung und der psychosexuellen Entwicklung von Kindern. Im Interview erklärt sie, wann Erwachsene eingreifen müssen.
SPIEGEL ONLINE: Frau Schuhrke, können Fünfjährige andere Kinder überhaupt sexuell missbrauchen?
Bettina Schuhrke: Ich würde nicht von Missbrauch sprechen, weil das Planung voraussetzt. Die Kinder müssten sich vorab genau überlegen, wie sie andere dazu bringen, das zu tun, was sie wollen. Dazu sind sie im Kindergartenalter noch nicht in der Lage. Doktorspiele zwischen Kindern entwickeln sich meist spontan. Wenn solche Erkundungen zu weit gehen, würde ich deshalb von Übergriffen sprechen.
SPIEGEL ONLINE: Bis zu welchem Grad sind Doktorspiele unter Kindern normal und harmlos?
Schuhrke: Das kommt darauf an, was Sie als normal verstehen. Etwas, das häufig vorkommt oder gesellschaftlich akzeptiert ist? Im ersten Fall würde ich sagen, Doktorspiele sind normal. Laut Studien erleben etwa 30 bis 40 Prozent der Kleinkinder sexuelle Spiele mit Gleichaltrigen. Im zweiten Fall kommt es auf die gesellschaftliche Situation an – in Deutschland werden Doktorspiele eher akzeptiert. Ich persönlich finde, Kinder sollten ihren Körper kennenlernen dürfen.
SPIEGEL ONLINE: Spielt Sexualität bei Doktorspielen überhaupt eine Rolle?
Schuhrke: Doktorspiele sind vor allem bei Drei- bis Fünfjährigen typisch. Dabei stellen sie nur selten Szenen beim Arzt nach. Der Sammelbegriff steht vor allem für Spiele, bei denen die Kinder gegenseitig ihren Körper untersuchen und erkunden. Sexuelle Befriedigung hat damit meist nichts zu tun. Die Kinder wollen in den meisten Fällen nur schauen, weil sie neugierig sind.
SPIEGEL ONLINE: Welche Grenzen sollten solche Spiele nicht überschreiten?
Schuhrke: Problematisch wird es, wenn die Spiele nicht wechselseitig sind und wenn ein Kind Druck ausübt, egal, ob körperlich oder seelisch. Indem es beispielweise sagt: „Wenn du das nicht machst, bist du nicht mehr mein Freund.“ Auch wenn mehrere Kinder sich zusammentun und ein einzelnes unter Druck setzen, müssen Erwachsene einschreiten. Das gilt auch für andere Spiele. Durch die Verbindung mit dem Begriff „sexuell“ entsteht oft eine Besorgnis, die uns übersehen lässt, dass es „Übergriffe“ bei kleinen Kindern in vielfältiger Form gibt und dass es eine pädagogische Aufgabe ist, Regeln für den angemessenen Umgang untereinander einzuüben.
SPIEGEL ONLNE: Welche Warnzeichen gibt es?
Schuhrke: Wenn es einen großen Altersunterschied gibt, sollten Erzieherinnen und Erziehern Doktorspiele in jedem Fall im Blick behalten. Gerade bei Jüngeren reichen schon wenige Jahre Altersunterschied aus, und ein Kind ist dem anderen deutlich überlegen. Doktorspiele sollten einvernehmlich stattfinden. Sobald sich ein Kind wehrt, sollten Erzieherinnen und Erzieher es unterstützen, wenn es die Situation nicht selbst lösen kann. Bedenklich ist auch das Nachstellen von Handlungen, die eindeutig aus der Erwachsenensexualität stammen. In solchen Fällen muss geklärt werden, woher Kinder das haben, ob sie beispielsweise mit Pornografie in Berührung kommen oder im Extremfall selbst sexuell missbraucht werden. Es gehen auch Handlungen zu weit, bei denen sich Kinder verletzen könnten.
SPIEGEL ONLINE: Wie können Eltern und Erzieher am besten auf Doktorspiele reagieren?
Schuhrke: Kindergärten sollten das sexuelle Interesse von Kindern in ihr pädagogisches Konzept aufnehmen und darüber auch offen mit den Eltern sprechen. Und zwar möglichst bevor über erste Fälle von Doktorspielen diskutiert wird. Die Kita sollte deutlich machen, welches Verhalten unproblematisch ist – und welches nicht. Dadurch können auch Eltern Situationen besser einschätzen. In der Regel ist Gelassenheit angesagt und wenn Warnzeichen auftreten, ist eine genauere Analyse der Situation nötig. Denkbar ist auch eine für die Altersgruppe passende sexuelle Aufklärung, beispielsweise mit Schaubildern und Namen für alle Körperteile, auch die Genitalien. Dann sind Kinder eher in der Lage, Übergriffe zu erkennen und anzusprechen, auch wenn sie von Erwachsenen ausgehen.
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