Sind die geltenden Schadstoffgrenzwerte zu streng und damit die gerichtlich verhängten Fahrverbote überzogen? Kanzlerin Angela Merkel hatte Forscher der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina gebeten, diese Fragen unabhängig zu prüfen und aufzuklären. In der nun veröffentlichten Stellungnahme heißt es: Fahrverbote seien nicht geeignet, um die Schadstoffbelastung in der Luft nachhaltig zu senken. Die Experten fordern stattdessen eine nachhaltige Verkehrswende.
Zudem kritisieren die Forscher, dass die bisherige Debatte zu sehr auf die Auswirkungen von Stickstoffoxiden zielt. Der Schwerpunkt sollte den Wissenschaftlern zufolge aber auf Feinstaub liegen, der der Gesundheit deutlich mehr schade.
„Austausch der kompletten Dieselflotte nicht empfehlenswert„
Die Leopoldina mit Sitz in Halle in Sachsen-Anhalt erarbeitet im Rahmen einer „wissenschaftsbasierten Politikberatung“ Stellungnahmen, die auch Handlungsoptionen für die Politik enthalten. In der Regel kommt der Anstoß dafür von Mitgliedern oder Gremien der Akademie.
In diesem Fall aber hatte Merkel persönlich um eine Einschätzung gebeten, nachdem eine Gruppe von Lungenärzten den gesundheitlichen Nutzen der geltenden Grenzwerte angezweifelt hatte. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer hatte daraufhin eine Überprüfung der Grenzwerte gefordert. Inzwischen ist klar, dass die Stellungnahme der Lungenärzte entscheidende Fehler enthielt.
In Deutschland gilt der verbindliche EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, er ist Grundlage für die gerichtlich verhängten Dieselfahrverbote. Diesen Grenzwert zweifeln die Forscher in dem nun veröffentlichten Positionspapier nicht per se an. Eine Verschärfung dränge „aus wissenschaftlicher Sicht“ jedoch nicht. Eine exakte Grenzziehung zwischen gefährlich und ungefährlich im Sinne eines Schwellenwertes sei ohnehin kaum möglich. Insgesamt sind die Luftschadstoff-Emissionen in Deutschland mit Ausnahme von Ammoniak seit Jahren rückläufig.
„Die Verengung auf Stickstoffdioxid ist nicht zielführend“
„Stickstoffoxide können die Symptome von Lungenerkrankungen wie Asthma verschlimmern und tragen zur Bildung von Feinstaub und Ozon bei“, schreiben die Forscher. Der Grenzwert für Stickstoffoxide sei aber relativ streng und wird in Deutschland regelmäßig überschritten. Der weniger strenge Grenzwert für Feinstaub wird jedoch so gut wie flächendeckend eingehalten. „Die derzeitige Verengung der Debatte auf Stickstoffdioxid ist nicht zielführend“, heißt es in der Stellungnahme.
Die Diskussion um strengere Grenzwerte sollte sich stattdessen auf die Auswirkungen von Feinstaub konzentrieren, fordern die Forscher. Denn Feinstaub schade der Gesundheit deutlich mehr und könne unter anderem Atemwegserkrankungen, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Lungenkrebs verursachen.
Von Fahrverboten halten die Forscher dagegen wenig, weil solche kurzfristigen und kleinräumigen Maßnahmen kaum für Entlastung sorgen könnten. Ohnehin sei der Straßenverkehr nicht die einzige Quelle für Feinstaub, sondern auch Verbrennungsprozesse im Zusammenhang mit Energieversorgung und Haushalt, Landwirtschaft, Industrie und Holzfeuerung. Diese Bereiche seien jedoch häufig weniger streng reguliert. Die Forscher fordern deshalb eine bundesweite, ressortübergreifende Strategie zur Luftreinhaltung. Laut Messungen in der Stuttgarter Innenstadt aus dem Jahr 2013 verursachte der Straßenverkehr etwa die Hälfte der Feinstaubbelastung.
Weitere Punkte des Positionspapiers:
- Die tatsächlich auftretende Belastung durch Stickstoffdioxid und Feinstaub ist international kaum zu vergleichen, weil die Aufstellung der Messstationen unterschiedlich geregelt ist. Schon kleine Änderungen der Aufstellungsorte beeinflussen die Messergebnisse allerdings erheblich. Entscheidend ist beispielsweise, in welcher Höhe die Messgeräte angebracht werden und wie weit entfernt sie von viel befahrenden Kreuzungen stehen. Diese Kritik hatten auch Gegner der Fahrverbote vorgebracht. Die Forscher fordern deshalb, die Vorgaben international zu vereinheitlichen.
- Die Absenkung der Stickstoffdioxidbelastung sollte keinesfalls zum Anstieg klimaschädlicher CO2-Emissionen führen. „Ein kompletter Austausch der Dieselflotte durch Fahrzeuge gleicher Gewichtsklasse und gleicher Motorleistung mit Benzinmotoren ist auch aus Klimaschutzgründen nicht empfehlenswert“, heißt es in dem Positionspapier. Stattdessen fordern die Forscher eine nachhaltige Verkehrswende und die Entwicklung emissionsarmer Fahrzeuge.
- Besonders viel versprechen sich die Forscher von Software-Updates und Hardware-Nachrüstungen für Dieselfahrzeuge. Auch höhere Benzin- und Dieselpreise, höhere Steuern und Abgaben für Autos und ein gleichzeitiger Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel könnte das Verkehrsaufkommen deutlich senken.
Zur eigens eingerichteten Arbeitsgruppe der Leopoldina gehören 20 Professoren aus den zwölf Fachgebieten Medizin, Toxikologie, Biologie, Chemie, Epidemiologie, Statistik sowie Technik-, Wirtschafts-, Material- und Rechtswissenschaften, Soziologie und Verkehrsforschung.
Zusammengefasst: Die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina hat eine Stellungnahme zum Streit um Grenzwerte für Luftverschmutzung veröffentlicht. Kanzlerin Angela Merkel hatte sie darum gebeten. Die Forscher zweifeln an, dass Dieselfahrverbote wirksam sind. Zudem kritisieren sie, dass bisher Stickoxide im Zentrum der Debatte standen, für die vergleichsweise strengere Grenzwerte gelten. Bedenklicher für die Gesundheit sei dagegen Feinstaub, dieser entstehe jedoch nicht nur im Straßenverkehr. Die Forscher fordern deshalb eine Verkehrswende und eine bundesweite Strategie zur Luftreinhaltung.
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