Der 57-Jährige kann nicht mehr alleine in die Notaufnahme kommen, Angehörige bringen ihn. Sein Leben lang war der Mann psychisch gesund, dann entwickelte er plötzlich eine depressive Phase. In den vergangenen Wochen hat er rund vier Kilo abgenommen. Die Selbstfürsorge hat er weitestgehend aufgegeben, nachts kann er seinen Urin nicht mehr halten.
Nach seiner Ankunft in der belgischen Klinik beobachten die Ärzte, wie der Mann zusammengesackt in einem Rollstuhl sitzt. Er nimmt nur spärlich Augenkontakt auf, die meiste Zeit starrt er ins Nichts. Sein Gesicht wirkt ausdruckslos.
Auf Fragen antwortet der Mann verzögert, meistens ringt er sich nur wenige Worte ab. Dann spricht er von „dummen Gedanken“ oder wiederholt die gleichen, hoffnungslosen Sätze. „Es wird nie besser werden“, sagt er. „Ich werde es da nicht rausschaffen.“ Auch Aussagen der Ärzte wiederholt der Mann, ohne dass es Sinn ergibt, berichten Anouchka Franssen und Pascal Sienaert vom Universitätsklinikum in Leuven in der Fachzeitschrift „BMJ Case Reports“.
Gleichzeitig strahlt der 57-Jährige eine große Unruhe aus. Er pendelt mit dem Unterkiefer, klimpert mit seinen Fingern, seine Füße klopfen auf den Boden. Als die Ärzte ihn bitten, aufzustehen, wankt er. In der Nacht vor der Ankunft im Krankenhaus ist der Patient dreimal gestürzt. Sein Problem: Er spannt seine Muskeln so sehr an, dass sie versteifen. Eine solche Starre ist typisch für psychische Erkrankungen, kann aber auch bei einer Entzündung des Gehirns auftreten.
Behandlung in der Psychiatrie
Das Gesamtbild des Patienten ergibt für die Mediziner Sinn. Der Mann leidet aus ihrer Sicht an einer depressiven Phase mit einer Katatonie, der Begriff umschreibt eine Mischung aus Bewegungsstörungen und Erregungszuständen. Zu den typischen Folgen zählen die starren Muskeln, das Nachsprechen von Aussagen, die mangelnde Mobilität und das ständigen Wiederholen gleicher Sätze. Auch die Inkontinenz passt zu der Diagnose.
In der Psychiatrie beginnen die Ärzte, den Mann zu behandeln. Viermal am Tag erhält er jeweils ein Milligramm Lorazepam. Das Benzodiazepin verbindet sich mit sogenannten Gaba-Rezeptoren im Gehirn, die beruhigend wirken. Auf diese Weise löst das Mittel Spannungen, Ängste und fördert den Schlaf. Auch Muskeln kann das Mittel entspannen.
Die Therapie schlägt an, dem Mann geht es körperlich etwas besser. Dafür übermannen ihn jedoch Gefühle von Sorgen, Einsamkeit und Angst vor dem Tod. Innerhalb weniger Tage wandelt sich sein Verhalten extrem, er verliert zunehmend Hemmungen, agiert sexuell, hat plötzliche aggressive Ausbrüche und fängt an, endlos über Regeln und Vorschriften auf der Klinikstation zu diskutieren. Außerdem sieht er doppelt.
Die Ärzte machen eine Reihe an Bluttests, suchen nach Viren, sexuell übertragbaren Krankheiten und Spuren einer möglichen Hirnentzündung. Doch alle Werte sind normal. Bei neurologischen Tests weigert sich der Patient, zu kooperieren. Nachdem die Mediziner seinen rechten Arm mobilisiert haben, um die angespannten Muskeln zu untersuchen, setzt er die Bewegung immer und immer wieder fort. Es wirkt, als hätte er die Kontrolle darüber verloren.
Was wuchert im Kopf des Mannes?
Bei weiteren Tests befestigen die Ärzte Elektroden auf der Kopfhaut des Mannes, um seine Gehirnaktivität zu messen. Eine solche Elektroenzephalografie kann Krankheiten wie Epilepsie oder Hirnschäden sichtbar machen. Die Kurven wirken weitestgehend normal, auf der einen Kopfseite aber erscheinen Unregelmäßigkeiten.
Um dem nachzugehen, lassen die Ärzte MRT-Aufnahmen des Kopfes anfertigen. Die Bilder erschrecken. Im rechten Schläfenlappen des Mannes befindet sich eine große Masse, die das Gehirn zusammendrückt und verdrängt. Die Mediziner treibt nun vor allem eine Frage: Was wächst im Kopf des Mannes?
Neben Tumoren können sich im Großhirn auch Abszesse bilden, Eiteransammlungen infolge von Entzündungen, die ebenfalls extrem gefährlich sind – aber eine ganz andere Therapie erfordern. Die MRT-Bilder deuten jedoch darauf hin, dass innerhalb der Masse Gewebe abstirbt. Der Fund spricht für einen bösartigen Tumor. Die Mediziner verlegen den Mann von der Psychiatrie in die Neurochirurgie, wo sie den Patienten auf die Hirn-OP vorbereiten.
Keine Depression, dafür Gesprächsdrang
Der Eingriff glückt, die Ärzte können das Geschwulst herausschneiden. Anschließende Tests bestätigen, dass es sich tatsächlich um einen bösartigen Tumor gehandelt hat, ein Glioblastom. Der Tumor entwickelt sich aus Stützgewebe des Gehirns. Da er oft in umliegendes Gewebe vordringt, leiden viele Patienten unter einem Rückfall. Um das Risiko dafür zu senken, bestrahlen die Ärzte den Bereich des Gehirns, außerdem starten sie eine Chemotherapie.
Das Gehirn des Mannes vor dem Eingriff (A) nach dem Eingriff (B) und ein Jahr später (C), als der Tumor zurückkehrt
Mit dem Tumor verschwinden die Versteifung der Muskeln und die depressive Stimmung. Dafür entwickelt der Mann jedoch ein sogenanntes Frontalsyndrom, er ist enthemmt und hat einen starken Gesprächsdrang. Dies sei wahrscheinlich Folge einer Flüssigkeitsansammlung im Hirn, die durch die Operation entstanden ist, schreiben die Ärzte in ihrem Fallbericht. Innerhalb der folgenden Wochen normalisiert sich das Verhalten langsam.
Fünf Monate nach dem Eingriff kann der Patient in Teilzeit auf die Arbeit zurückkehren. Um mit den Folgen der Erkrankung klarzukommen, wird er psychologisch betreut.
Ein Jahr nach der Operation verschlechtert sich sein Zustand jedoch wieder. Er entwickelt Panikattacken und leidet unter Bewegungen, die ihn plötzlich überfallen und er nicht steuern kann. Die Mediziner diagnostizieren eine Epilepsie, den Ursprung finden sie im verletzten Schläfenlappen. Der Tumor ist zurückgekehrt. Die Mediziner starten eine Behandlung mit Antiepileptika und eine Chemotherapie.
Weitere Hirnscans fünf Wochen später zeigen jedoch, dass der Tumor weiter gewachsen ist. Vier Monate später stirbt der Patient.
Quelle: Den ganzen Artikel lesen