Wer noch nie einen Schwächeanfall hatte oder krank war, werfe den ersten Stein!

„Merkel-Schock!“, titelte Deutschlands prominenteste Boulevardzeitung, weil die Bundeskanzlerin gestern während der Nationalhymne beim Staatsempfang für den ukrainischen Präsidenten von einem „rätselhaften Zittern“ erfasst wurde (der stern berichtete). Wir erfuhren allerhand Spekulatives: Wie kurz sie vor dem Kollaps stand, was nicht behandelnde Ärzte dazu sagten, dass der ukrainische Botschafter für sie betete. Drama, Drama. Die Absicht hinter der vorgeheuchelten Sorge um Angela Merkel war vermutlich diese: In all unseren Köpfen sollten Zweifel über die Frage gesät werden, ob sie noch stark genug ist für das Amt.

Manche Medien sind unerbittlich mit denen, die im Licht der Öffentlichkeit stehen und eben auch mal krank sind, so wie wir alle. Kürzlich war der Nachrichtensprecher Jan Hofer in Erklärungsnöten, nachdem er sich während der Live-Übertragung der Tagesschau öfter versprach und zeitweise apathisch wirkte. Er habe möglicherweise ein Grippemedikament schlecht vertragen, sagte er später. Auch Angela Merkel erklärte ihren Schwächeanfall später auf einer Pressekonferenz mit einer Lappalie: Sie habe inzwischen drei Gläser Wasser getrunken, das habe offensichtlich gefehlt. Möglich. Könnte auch was anderes gewesen sein. Wir werden es nicht erfahren, und das ist auch gut so.

Krankheit und Bekanntheit passt für viele nicht zusammen

Denn wer ständig im Licht der Öffentlichkeit steht, darf nicht krank sein. Das ist ein eisernes Gesetz. Jeder Migräneanfall, jede noch so harmlose Magenverstimmung lösen die reflexartige Frage aus: Packt er oder sie es noch? Schließlich gieren viele schon jahrelang danach, das Ruder zu übernehmen. Als vor 20 Jahren der frühere Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens Johannes Rau für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte, zweifelten politische Gegner seine Amtstauglichkeit an, weil sich an seiner Bauchschlagader eine krankhafte Aussackung, ein sogenanntes Aneurysma, befand. Der Befund wäre besser ein Arztgeheinmis geblieben, anstatt mitten in die politische Schlammschlacht zu geraten. Rau überstand denn auch seine vier Amtsjahre als Bundespräsident bekanntlich ohne größere gesundheitliche Probleme.

Vor einigen Jahren sprach ich mit einem Vorstandsmitglied der Deutschen Diabetes-Hilfe über das Image-Problem der Volkskrankheit, an der schätzungsweise jeder zehnte hierzulande leidet. Natürlich seien der Patientenorganisation auch viele Prominente mit Diabetes bekannt – Schauspieler, Politiker, Konzernlenker, Moderatoren. Das Problem sei nur: Niemand wolle sich offen dazu bekennen und der Krankheit in Plakatkampagnen sein Gesicht zur Verfügung stellen. Denn wer Diabetes hat, kann bei schlechter medikamentöser Einstellung sogar ins Koma fallen. Niemand, der in der Öffentlichkeit steht, will, dass andere von diesem nur theoretischen Risiko wissen. Leider ist die Angst nur zu berechtigt, dass es ihnen als Schwäche ausgelegt werden könnte. Auf der gleichen Abendveranstaltung trat der Diabetes-Blogger Bastian Hauck auf, der als Einhand-Segler alleine die Weltmeere bereiste – mit Typ 1-Diabetes, täglich auf regelmäßige Mahlzeiten und seine Insulin-Spritzen angewiesen. Er führte allen vor Augen, was man trotz chronischer Krankheit im Leben erreichen kann. Täglich stehen Diabetiker als Chirurgen am OP-Tisch, sie fällen als Richter Urteile, in einigen Ländern (derzeit noch nicht in Deutschland) dürfen sie sogar als Berufspiloten Passagiere fliegen. Doch wehe, sie stehen vor der Kamera!

Wir brauchen ein entspannteres Verhältnis dazu, dass Menschen eben nun mal öfter mal akut und nicht selten auch chronisch krank sind – und trotzdem sogar dazu geeignet sind, einen Staat zu lenken. Vor allem wenn sie, so wie die Bundeskanzlerin, sich von so einem Schwächeanfall nicht gleich aus der Bahn werfen lassen. Ihre Kraft verdient Bewunderung.


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