Steigende Impfquote, steigende Fallzahlen? Das Phänomen könnte auch Deutschland drohen

Auf dem Weg in einen Post-Pandemie-Alltag gelten Impfungen als wichtigstes Mittel. Doch in vielen Ländern, die jetzt das Impftempo ankurbeln, steigen gleichzeitig auch die Fallzahlen. Experten warnen schon lange vor diesem Phänomen.

Offene Restaurants, Konzerte mit Live-Publikum, Familientreffen im großen Kreis – in Israel ist der Post-Pandemie-Alltag schon Realität. Über 60 Prozent der Bevölkerung haben hier zumindest die erste Impfdosis erhalten, die Zahl der Neuinfektionen sinkt immer weiter. So ist das Land zum Vorreiter in Sachen Impfen geworden – und macht Hoffnung, dass die Impfkampagnen auch in anderen Ländern bald Wirkung zeigen könnten.

Doch in vielen Staaten, die jetzt das Impftempo anziehen, lässt sich eine ganz andere Entwicklung beobachten – nämlich ein rasanter Anstieg der Neuinfektionen. Das wirkt auf den ersten Blick paradox, ist aber ein bekanntes Phänomen.

Höhere Impfquoten führen zu mehr Unvorsichtigkeit

Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité warnte bereits mehrfach vor genau diesem Szenario. Denn: Sobald mehr Menschen geimpft seien, würden viele zur Unvorsichtigkeit neigen. Das sei verbunden mit Rufen nach Lockerungen: "Wenn die alten Menschen und vielleicht auch ein Teil der Risikogruppen geimpft sein werden, wird ein riesiger wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und vielleicht auch rechtlicher Druck entstehen, die Corona-Maßnahmen zu beenden", sagte Drosten im Januar im Gespräch mit dem "Spiegel".

Dabei könnten zu frühe Lockerungen fatale Auswirkungen haben. Vor allem dann, wenn trotz höherer Impfquote immer noch ein Großteil der Bevölkerung nicht geimpft sei. "Dann werden sich innerhalb kurzer Zeit noch viel mehr Leute infizieren, als wir uns das jetzt überhaupt vorstellen können", warnte Drosten.

Genau das lässt sich derzeit in mehreren südamerikanischen Ländern beobachten. Chile beispielsweise gilt als Impf-Vorzeigeland. Fast 40 Prozent der Bevölkerung haben hier mindestens eine Impfdosis erhalten – bereits im Juni will der Staat die Herdenimmunität erreicht haben. Trotzdem steigen sowohl Infektionszahlen als auch Todesfälle in dem südamerikanischen Land weiter.

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"Weniger Maskengebrauch, mehr Partys am Strand, in Bars, volle Shoppingcenter"

Experten werfen der Regierung in Chile vor, dass sie die Restriktionen viel zu früh wieder aufgehoben habe. Gleichzeitig habe die gute Impfquote den Menschen eine falsche Sicherheit gegeben, sagte Simone Reperger von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Santiago de Chile dem "Deutschlandfunk".

"Dank dem Ranking als ‚Impfweltmeister‘ und dem Diskurs der Regierung, dass im Juni Herdenimmunität erreicht sei, haben die Chileninnen und Chilenen in den letzten Sommermonaten, das waren die Ferien im Januar und Februar, sich nicht mehr so gut geschützt wie zuvor. Weniger Maskengebrauch, mehr Partys am Strand, in Bars, volle Shoppingcenter," erklärte sie.

Auch andere Faktoren könnten einen Einfluss auf das Infektionsgeschehen in Chile haben. Zum einen ist davon auszugehen, dass die britische und die brasilianische Virus-Variante die Ausbreitung in Chile weiter beschleunigt haben. Zum anderen kommt hinzu, dass in Chile hauptsächlich das chinesische Vakzin Sinovac eingesetzt wurde – der Schutz gegen eine Ansteckung soll hier nur bei etwas über 50 Prozent liegen.

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch in Uruguay beobachten. Obwohl auch hier schon fast 28 Prozent der Menschen geimpft wurden, steigen die Zahlen rasant. Derzeit liegen die Neuinfektionen bei etwas über 1000 pro einer Million Einwohner – und damit so hoch wie noch nie seit Beginn der Pandemie. Ein Grund dafür sei auch hier, dass die Bevölkerung in den letzten Monaten unvorsichtiger geworden sei, warnte Carissa Etienne, die Direktorin der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation (PAHO): "Ich kann es nicht oft genug betonen – in den meisten Ländern werden Impfstoffe diese Welle der Pandemie nicht aufhalten." Die Nähe zu Brasilien, wo die Mutation P.1 weit verbreitet ist, könnte ein weiterer Faktor sein, der zum Anstieg der Neuinfektionen beigetragen hat.

US-Bundesstaaten lockern entgegen Rat der Experten

Nicht nur in Südamerika, sondern auch in den USA steigen die Fallzahlen wieder an. Und das, obwohl die Vereinigten Staaten im weltweiten Vergleich die vierthöchste Impfquote haben. Rund 37 Prozent der Bevölkerung haben mindestens eine Impfung erhalten. Doch auch hier griff in den letzten Wochen eine gewisse Sorglosigkeit um sich, mehrere Staaten wie Georgia, Texas oder Mississippi lockerten bereits Anfang März die Corona-Maßnahmen entgegen des Rats der Experten. US-Präsident Biden machte sehr deutlich, dass er die Aufhebung der Restriktionen für verfrüht halte.

Der US-Bundesstaat Michigan verzeichnete am Mittwoch 574 Fälle pro einer Million Einwohner – das ist etwa fünfmal so viel wie Mitte Februar. Auch hier waren die Maßnahmen zuvor teilweise gelockert worden. Die Direktorin der Seuchenschutzbehörde CDC, Rochelle Walensky, forderte Gouverneurin Gretchen Whitmer am Montag eindringlich dazu auf, neue Einschränkungen zu beschließen. Es würde, wie sie erklärte, nicht reichen nur auf Impfungen zu setzen, weil es zu lange dauern würde, bis der Effekt tatsächlich sichtbar wäre.

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Israel zögerte lange mit Lockerungen

Es muss allerdings nicht immer so laufen wie in Chile, Uruguay oder den USA. In Israel wartete man trotz extrem hoher Impfgeschwindigkeit lange, bis man Lockerungen zuließ. Erst Mitte März, als bereits 60 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft wurden, öffneten Restaurants, Geschäfte und Freizeiteinrichtungen. Das zeigte sich auch im Infektionsgeschehen: Die Zahl der Neuinfektionen sank in den letzten Monaten kontinuierlich ab.

Ganz ähnlich ist die Lage auch in Großbritannien. Fast die Hälfte der Briten (47 Prozent) hat bereits die erste Impfdosis erhalten. Anfang dieser Woche durften auch hier nach monatelangem Lockdown Geschäfte, Friseure und Biergärten wieder öffnen – allerdings erst als die landesweite 7-Tage-Inzidenz bei knapp 30 Fällen pro 100.000 lag.

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