Jeder siebte bis zehnte Corona-Infizierte leidet auch Monate nach der Infektion noch an Spätfolgen. Oliver (51) ist einer von ihnen. Mediziner aus Erlangen konnten seine Long-Covid-Symptome jetzt aber vertreiben: mit einem Medikament gegen Herzleiden.
Im Kampf gegen Corona suchen Wissenschaftler und Ärzte rund um den Globus weiter nach Medikamenten. Der entscheidende Wurf ist bisher nicht gelungen – weder gegen Akutsymptome noch gegen Long-Covid. Mediziner des Universitätsklinikums Erlangen melden jetzt aber zumindest gegen Long-Covid erste Erfolge.
Dank eines Medikaments, das ursprünglich zur Bekämpfung von Herzerkrankungen entwickelt wurde, ist es einem Ärzte-Team im Rahmen eines individuellen Heilversuchs im Juli erstmals gelungen, dass ein 59-jähriger Mann mit Long-Covid-Syndrom beschwerdefrei wurde. Und genau das haben die Ärzte nun offenbar bei zwei weiteren Patienten geschafft, wie die Klinik in einer Pressemitteilung schreibt.
Hoffnung für Hunderttausende Long-Covid-Betroffene
Beide Long-Covid-Patienten hätten den Wirkstoff mit dem Namen BC 007 demnach im Rahmen einer einmaligen jeweils 75-minütigen Infusion bekommen und waren danach drei Tage unter stationärer Kontrolle geblieben. Seither würde ihr Gesundheitszustand ambulant überwacht; die verbesserte Leistungsfähigkeit und Lebensqualität sei jedoch bei beiden Betroffenen bereits deutlich spür- und messbar.
„Nach einer Covid-19-Erkrankung zirkulieren spezielle Auto-Antikörper im Blut. Diese richten sich gegen den eigenen Organismus und können zum Beispiel bestimmte Körperstrukturen schädigen und die Durchblutung beeinträchtigen“, erklärt Augenärztin Bettina Hohberger.
Mehr zu Long Covid
Diese gegen den eigenen Körper gerichtete Immunreaktion könnte BC 007 verhindern: „Bei den beiden aktuell Behandelten sehen wir: BC 007 neutralisiert die schädlichen Autoantikörper, und die retinale Mikrozirkulation verbessert sich – also die Durchblutung in den feinsten Blutgefäßen des Auges. Das können wir mithilfe der Optischen Kohärenztomografie-Angiografie, der OCT-A, nachweisen. Außerdem haben die klinischen Long-Covid-Symptome bei beiden Behandelten abgenommen“, bestätigt die Augenärztin.
- Mehr zu Long-Covid: Long-Covid bei Formel-1-Star Hamilton? Diese Symptome deuten auf Spätfolgen hin
„Ich war ein Abziehbild meiner selbst – ein Zombie und nicht ich“
Einer der beiden Patienten, der den Wirkstoff gegen Long-Covid erhielt, ist der 51-jährige Oliver G. aus dem Allgäu. Im Mai 2020 riss ihn Corona mitten aus dem Leben. Bis dahin war Oliver erfolgreicher, international tätiger Key Account Manager, mehrfacher Ironman, Skilangläufer mit einem gesunden Lebensstil. Augenklinik/Uni-Klinikum Erlangen Die Bilder zeigen: Die Durchblutung der Netzhaut eines Patienten nach Corona-Infektion (links) ist im Vergleich zu der eines Gesunden (rechts) verringert.
Nach seiner Covid-19-Erkrankung litt er plötzlich unter starken Erschöpfungszuständen, Gleichgewichts-, Koordinations- und Gedächtnisstörungen sowie unter Muskelzuckungen und einem starken Zittern der rechten Hand und des Arms (Tremor). „Das Zittern war so stark, dass es bis ins Bein ausstrahlte. Ich dachte irgendwann, ich habe Parkinson“, zitiert ihn die Erlanger Klinik. Seinen Beruf im Vertrieb musste Oliver im Mai 2020 aufgeben.
„Ich war völlig desorientiert und unkonzentriert und versuchte einfach nur, zu überleben. Ich war ein Abziehbild meiner selbst – ein Zombie und nicht ich“, beschreibt Oliver den sogenannten Gehirnnebel in seinem Kopf (brain fog), von dem viele Long-Covid-Betroffene berichten. F. Männel/Uni-Klinikum Erlangen Oliver G. riss seine Corona-Infektion mitten aus dem Leben
Nichts war mehr wie zuvor
Die berufliche Wiedereingliederung in seiner Firma musste er nach drei Monaten abbrechen. „Ich konnte Gesprächen nicht mehr folgen, keine Präsentationen erstellen oder Verhandlungen führen und brauchte bei allem die Unterstützung von Kollegen. Zu Hause stellten mich die kleinsten Alltagstätigkeiten vor extreme Herausforderungen, sodass ich zeitweise sogar eine Haushaltshilfe brauchte. Lesen, etwas im Garten machen, mit meinem Hund Gassi gehen – nichts ging mehr.
Wegen der Gleichgewichtsprobleme waren auch Fahrrad-, Motorrad- und Autofahren nicht mehr möglich. Dazu kamen Existenzängste, Panikattacken und eine Art Gefühlsinkontinenz, wie ich es nenne: Ich konnte meine Emotionen überhaupt nicht mehr regulieren.“ Auch Sport, der für Oliver immer ein wichtiger Ausgleich gewesen war, konnte er nicht mehr ausüben.
Corona machte Karl (52) arbeitsunfähig: "Wir müssen Long-Covid als Krankheit anerkennen"
Bayerischer Rundfunk Corona machte Karl (52) arbeitsunfähig: „Wir müssen Long-Covid als Krankheit anerkennen“
Brain Fog und Museklzuckungen waren schon am nächsten Tag weg
Anfang Juli 2021 erfuhr der 51-Jährige vom erfolgreichen Heilversuch gegen Long-Covid an der bayerischen Klinik und nahm Kontakt auf – Ende Juli erhielt er die Infusion mit BC 007. Die Auto-Antikörper wurden neutralisiert, und die Durchblutung verbesserte sich. Schon am Tag nach der Medikamentengabe verzog sich der Gehirnnebel und die Muskelzuckungen ließen nach.
An Tag zwei wich der Tremor. Im Lauf der ersten Woche besserten sich Gleichgewicht, Erschöpfungszustände, Koordination und Gedächtnisleistung deutlich.
„Meine körperliche, kognitive und psychische Leistungsfähigkeit ist zurückgekehrt. Das Dahinvegetieren hat ein Ende; ich kann wieder klar denken, Freude empfinden und bin emotional stabil“, erklärt Oliver und freut sich: „Im September fange ich wieder an, in meiner alten Position zu arbeiten – nach 15 Monaten! Ich bin dankbar, dass mein Arbeitgeber mich nicht aufgegeben und mich auf meinem Weg der Heilung immer unterstützt hat.“
„Sie war nicht mehr arbeitsfähig, schlief ständig ein“
Ähnlich glücklich beschreibt Patientin Nummer drei die Heilung ihrer Long-Covid-Symptome. Der Augenklinik zufolge ist sie eine 39-jährige Grundschullehrerin aus Mittelfranken. Auch sie habe infolge ihrer Covid-19-Erkrankung unter massiver Abgeschlagenheit gelitten, unter Gleichgewichts-, Koordinations-, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen und brain fog sowie an Gangunsicherheiten und Geschmacksstörungen. Dazu seien zeitweise Lähmungserscheinungen in einer Hand und in einem Fuß gekommen.
„Diese Patientin war die am schwersten von Long-Covid-Betroffene, die ich bisher gesehen habe“, berichtet Medizinerin Hohberger. „Sie war nicht mehr arbeitsfähig. Ihre Gangunsicherheiten waren massiv. Gesprächen konnte sie nur sehr schwer folgen und schlief dabei ständig ein.“
Alle wichtigen Meldungen zum Coronavirus im FOCUS-Online-Newsletter. Jetzt abonnieren.
Vor Covid-19 war sie gesund, dreimal die Woche joggen und leidenschaftliche Fahrradfahrerin. „Auch mich hat Covid plötzlich aus meinem Leben gerissen. Die überwiegende Zeit lag ich im Bett und konnte nicht mal lesen“, zitiert sie die Klinik. Bereits der Besuch beim Arzt, kurze Gespräche mit Kollegen oder ein kurzer Spaziergang lösten in der Folge für einige Stunden Lähmungserscheinungen aus. „An den schlimmsten Tagen blieb auch die Sprache trotz klarer Gedanken kurzzeitig weg. Ohne meinen Mann, meine Eltern und unsere hilfsbereiten Freunde hätte ich das alles nicht geschafft“, schildert sie ihre Odysee.
Ärztin: „Schon an Tag eins nach Gabe des Medikaments ließ der brain fog deutlich nach“
BC 007 half auch der 39-Jährigen nach Angaben der Erlanger Augenklinik massiv: „Schon an Tag eins nach der Gabe des Medikaments ließ der brain fog deutlich nach“, erklärt Bettina Hohberger. „Zudem bessern sich seitdem ihre neurologischen Einschränkungen und die Erschöpfung zusehends.“ Auch bei dieser Patientin greift der Wirkstoff erfolgreich in den molekularen Pathomechanismus ein: Die Autoantikörper gegen G-Protein-gekoppelte Rezeptoren wurden neutralisiert, und in der klinischen Diagnostik zeigte sich eine Verbesserung der Augendurchblutung.
„Nach und nach spüre ich die Verbesserung meiner neurologischen Symptome“, bestätigt die Patientin. „Lähmungserscheinungen hatte ich seit der Infusion nicht mehr. So langsam gewinne ich wieder Vertrauen in meinen Körper. Wenn ich nun wieder Laufen übe oder mit meinen Kindern etwas spiele, spüre ich zwar, dass mein Körper noch schneller erschöpft ist als vor der Krankheit, aber ich erhole mich davon nach einer Ruhephase. Das war vor der Medikamentengabe nicht möglich.“
Studie soll Wirksamkeit und Sicherheit des Mittels klären
Ist das Herz-Medikament damit ein wirksamkes Mittel gegen die lästigen und vielfach diffusen Long-Covid-Symptome? Vielleicht. Um Genaueres herauszufinden, hat die bayerische Klinik inzwischen einen Antrag auf Fördermittel beim Bundesministerium für Bildung und Forschung gestellt. Ob der Wirkstoff BC 007 auch anderen Betroffenen hilft, soll bald in einer klinischen Studie überprüft werden.
„Eine vierte Behandlung mit BC 007 haben wir kürzlich noch durchgeführt. Jetzt wird es keine weiteren Heilversuche bei Patientinnen oder Patienten mit Long-Covid mit dem Medikament mehr geben. Wir haben beim Bundesministerium für Bildung und Forschung einen Antrag auf Fördergelder gestellt und hoffen, dass er bewilligt wird. Dann könnten wir vielleicht noch dieses Jahr mit einer klinischen Studie starten“, erklärt Christian Mardin, leitender Oberarzt der Augenklinik.
Betroffene mit Long-Covid-Symptomatik könnten sich bis dahin per E-Mail an [email protected] wenden und würden kontaktiert, wenn die Studie startet und sie dafür infrage kommen.
Auch anderswo in Deutschland forschen Mediziner an Covid-Medikamenten – zum Beispiel am Göttinger Max-Planck-Institut (MPI) für biophysikalische Chemie. Eine Zulassung ist bisher nicht beantragt; weder für die Akutphase noch Spätfolgen der Erkrankung.
- Lese-Tipp: Besser als Remdesivir: Haben Forscher endlich die Pille gegen Covid gefunden?
60 Prozent der Krankenhaus-Patienten geimpft: Infektiologe erklärt Israel-Paradoxon
FOCUS Online/Wochit 60 Prozent der Krankenhaus-Patienten geimpft: Infektiologe erklärt Israel-Paradoxon
Quelle: Den ganzen Artikel lesen