Stefanie lag in ihrem abgedunkelten Schlafzimmer und versuchte aufzustehen. Sie konnte nicht. Die Motivation, die sie noch kurz nach ihrem Studienabschluss gehabt hatte, war verschwunden. So, als hätte es sie nie gegeben. „Es war wie ein Riesenberg, der sich vor mir auftat und von dem ich nicht wusste, wie ich ihn überwinden soll“, versucht die Lehrerin ihre damalige Gefühlslage zu beschreiben. Während des Referendariats war es ihr tagelang unmöglich, ihr Bett zu verlassen, zur Schule zu gehen und zu unterrichten. Sie hatte Depressionen. Ihr Freund versuchte, sie zu motivieren, zunächst vergeblich. „Wir haben uns irgendwann eine Katze geholt, damit ich gezwungen war aufzustehen, um ihr Essen zu geben“, sagt Stefanie.
So wie Stefanie geht es tausenden Referendaren und Lehrern in Deutschland. Das hat 2018 eine repräsentative Erhebung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ergeben. Die Studienleiter befragten mehr als 200.000 Erwerbstätige in Deutschland. Demnach leidet jeder zweite Lehrer unter Erschöpfungszuständen, 40 Prozent unter Kopfschmerzen, Nervosität und Reizbarkeit, 35 Prozent unter Schlafstörungen.
Schon 2006 kam die seitdem oft zitierte Potsdamer Lehrerstudie mit 16.000 befragten Lehrern zu dem Ergebnis: Die Burnout-Rate von Lehrern und Erziehern ist mit 29 Prozent höher als in allen anderen Berufen. Seitdem hat sich offenbar wenig verbessert. Vor allem das Referendariat, der Wechsel von der Theorie in die Praxis, stellt angehende Lehrer vor große Herausforderungen. Auf einmal sollen sie vor Klassen unterrichten, in denen oft Jugendliche sitzen, die nur wenig älter sind als sie selbst. Etwa jeder siebte bricht das Referendariat ab. Einer davon ist Nico.
„Mein Referendariat hat mir die Freude am Leben genommen“
„Ich habe während meines Referendariats die Freude an allem verloren, die Freude am Leben“, sagt Nico, 26. Seine schweren Depressionen begannen so schleichend, dass er sie zunächst nicht bemerkte, vielleicht auch nicht wahrhaben wollte. Erst arbeitete er zu viel, dann auch in seiner Freizeit, bis er irgendwann nur noch an die Unterrichtsvorbereitungen dachte – und daran, was passieren würde, wenn er versagte. Wie Stefanie sagt auch er: „Ich konnte nicht mehr aufstehen.“
Nico, eigentlich ein leidenschaftlicher Sportler, machte während seines Referendariats gar keinen Sport mehr. Schon einfachste Alltagsaufgaben raubten ihm die Kraft, die er – so glaubte er – für seine bevorstehende Lehrprobe brauchte. Die Angst, keine perfekte Unterrichtsstunde abzuliefern, war es, die ihn letztendlich in die Psychiatrie trieb. Nico fühlte sich seit Wochen alleingelassen und überfordert. Sein Referendariat absolvierte er an einem Gymnasium in Schleswig-Holstein. Dort ist es üblich, gleich zu Beginn ohne weitere Hilfe vor Klassen zu unterrichten. Etwas, das die angehenden Lehrer aus ihrem Studium nicht gewohnt sind. Die abzuliefernde Lehrprobe stellten sich Nicos Seminarleiter als perfekte Unterrichtsstunde vor. Nico war wochenlang mit der Vorbereitung beschäftigt, aber die Angst zu scheitern blieb.
„Ich hatte stark abgenommen und den Appetit verloren. Nach der Schule musste ich mich erst mal hinlegen, weil ich so fertig war. Ich war nicht mehr in der körperlichen und psychischen Verfassung, weiter zu unterrichten.“ Als Nico nicht einmal mehr die Kraft fand, sich etwas zu essen zu machen, wusste er, dass er handeln musste.
„Freitag war die Lehrprobe, zwei Tage vorher habe ich mich einweisen lassen“, sagt er. „Ich war am Ende. Ich hatte Angst, in die Schule zu gehen. Stattdessen ging ich in eine psychiatrische Klinik.“
„Es ist wichtig, sich nicht über Leistung zu definieren“
Nico blieb drei Monate dort. Heute weiß er: Er ist einer der Referendare, die alles perfekt machen wollen, zu perfekt. Ein Fehler, der angehende Lehrer im schlimmsten Fall in die Depression führen kann, sagt Dirk Lehr, Professor für Gesundheitspsychologie an der Universität Lüneburg. Er hat viel zu diesem Thema geforscht und Studien anderer Autoren ausgewertet. Lehr hat sogar ein Anti-Stress-Training speziell für Lehrer entwickelt, das ihre Psyche stärken soll. Dabei bemerkte er, dass viele der jungen Lehrer zu Perfektionismus neigen. Deshalb, betont Lehr, sei es wichtig, sich nicht über seine Leistung zu definieren.
„Man muss verstehen, dass nicht immer alles zu 100 Prozent perfekt sein muss. Es ist auch in Ordnung, wenn mal ein paar Sachen dabei sind, die nur okay laufen, die schlecht sind. Es dürfen auch mal 70 Prozent sein“, sagt er. Menschen wie Nico sollten sich laut dem Professor Grenzen setzen. Sich sagen: „In zwei Stunden möchte ich mit dieser Unterrichtsvorbereitung fertig sein. Und wenn es dann nicht perfekt ist, dann ist es eben so. Betroffene müssen lernen, das nicht Perfekte auszuhalten.“
„Die Leute vergessen, dass wir die Kinder erziehen, die später wählen und niemanden ermorden sollen“
Aber es ist nicht nur falscher Perfektionismus, der Referendare in die Depression treibt. Stefanie zog ihr Referendariat durch. Auch, weil ihre Mutter drohte, sie in eine Klinik zu stecken. Viereinhalb Jahre sind seitdem vergangen. Heute ist sie Gesamtschullehrerin für Mathe und Chemie. Damals war sie 24, seit zwei Monaten Referendarin. Bei ihr war es vor allem der Druck, das schlechte Betreuungsverhältnis und teils katastrophale Zustände in ihrer Schule, die ihr zusetzten. Mittlerweile geht es ihr besser. Besser, aber nicht gut. Depression ist keine Krankheit, die mit einem Mal weg ist. „Man hat nur gelernt, auf die Vorzeichen zu achten“, sagt Stefanie. „Ich bin noch keine 30 und fühle mich jetzt schon ständig überarbeitet und ausgelaugt. Ich schlafe viel zu wenig, mein Sozialleben leidet. Ich habe Freunde verloren, mittlerweile auch meinen Freund. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.“
Natürlich weiß sie, dass es Berufe mit einer noch viel höheren Arbeitsbelastung gibt. „Aber die Leute vergessen, dass wir die Kinder erziehen, die später wählen und niemanden ermorden sollen. Das muss ein Bankmanager nicht.“ An ihrer ersten Schule hätten viele Schüler schwere Verhaltensstörungen gehabt.
„Man muss den Studenten an der Uni Werkzeuge an die Hand geben, wie sie überleben“
„Kaum jemand weiß, wie sich das anfühlt als junge Frau, wenn ein zwei Köpfe größerer Junge zu dir sagt: ‚Sie haben mir gar nichts zu sagen und Sie sind eine Scheiß-Lehrerin!‘ Mein Selbstbewusstsein war am Boden. Man muss den Studenten an der Uni mehr Werkzeuge an die Hand geben, wie sie überleben. Und ich meine damit wirklich überleben.“
Hinzu kam bei Stefanie, dass ihre Seminarleiterin während ihres Referendariats kaum Zeit für sie hatte, weil sie selbst Vollzeit arbeitete, nebenbei Mutter war und 17 weitere Referendare betreute. Ein Problem, das auch Nico kennt. Einige Referendare würden sich vor ihren Seminarleitern fürchten oder fühlten sich alleingelassen. Nico erzählt von einem Referendar aus seiner Heimatstadt, der sich umgebracht hat. „In seinem Abschiedsbrief hat er seinen Seminarleiter mit dafür verantwortlich gemacht“, sagt Nico.
Er selbst möchte niemanden für seine Krankheit verantwortlich machen. Er weiß, dass es bei ihm nicht nur das Referendariat war, das ihn in die psychiatrische Klinik getrieben hat. Nico vermisste seine Freundin, die in Portugal lebte und kannte kaum jemanden in der Stadt, in die er für er den Job gezogen war. Aber er ist überzeugt, dass es ohne das Referendariat nie so schlimm geworden wäre. Für Referendare würde er sich wünschen, dass sie mehr Unterstützung von anderen Lehrern bekommen, sich mehr ausprobieren dürfen und mehr wertgeschätzt werden.
„Wertschätzung des Vorgesetzten funktioniert wie ein Schutzschild gegen Depressionen“
Auch Dirk Lehr betont, welche wichtige Rolle die Anerkennung und Wertschätzung durch Vorgesetzte spielt. „Wenn Menschen in einem Umfeld arbeiten, in dem sie viel Anerkennung und Wertschätzung erhalten, wirkt das wie ein Schutzschild gegen Depressionen“, sagt er. Genau das fehle Referendaren und Lehrern wie Stefanie oder Nico, die von Schülern teils schlecht behandelt und von Vorgesetzten zu wenig unterstützt wurden.
Bei Nico war es vor allem die Lehrprobe, die ihn depressiv werden ließ. Heute weiß er: „Die Lehrprobe ist ein Schauspiel. Das ist lächerlich. Diese eine Probestunde kostet 30, 40 Stunden Vorbereitungszeit und dient nur dazu, dem Seminarleiter etwas vorzuspielen.“ Seine Hoffnung ist, dass die Lehrprobe irgendwann ihren eigentlichen Sinn zurückerhält: den Kindern etwas beizubringen und nicht, es dem Seminarleiter möglichst recht zu machen.
Nico und Stefanie haben mittlerweile unterschiedliche Wege gefunden, mit ihren Depressionen umzugehen. Nico hat sein Leben nach seiner Therapie komplett verändert. Er ist nach Portugal zu seiner Freundin gezogen und hat sich selbstständig gemacht. Nun bietet er Touren durch Portugal für Touristen an.
„Lehrer brauchen eine praxisnähere Ausbildung“
Stefanie entschied sich trotz allem dazu, Lehrerin zu werden. Eigentlich möge sie die Arbeit mit den Kindern ja, sagt sie. „Sie wachsen einem halt ans Herz.“ Auch wenn sie zugibt: Es ist auch Angst, die sie in dem Beruf hält. Angst, dass es in der freien Wirtschaft noch schlimmer zugehen und dass sie weniger verdienen könnte.
Für angehende Lehrer wünschen sich beide vor allem eines: ein Studium, das praxisnäher ist und besser auf die Realität an Schulen vorbereitet.
„Ich hatte in der Uni weder gelernt, wie man Unterricht effektiv und mit wenig Zeitaufwand plant noch wie ich mit den ganzen sozialen Problemen umgehen soll“, sagt Stefanie. „Heute, nach fast viereinhalb Jahren, weiß ich das natürlich alles. Damals hat mich das so verzweifeln lassen, dass ich nicht mehr aufgestanden bin.“
Quellen: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Potsdamer Lehrerstudie
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