Der letzte Ausweg: Ein Blick auf die deutsche Impfpflicht – damals und heute

Die Zahl der täglichen Neuinfektionen schießt seit Ende Oktober in die Höhe, die Intensivstationen füllen sich – kurzum: Die vierte Corona-Welle geht eher in Richtung Tsunami.

Als Reaktion verschärfen Bund und Länder die Schutzmaßnahmen drastisch – und vor allem: eine allgemeine Impfpflicht, die die Politik lange Zeit kategorisch ausgeschlossen hatte, gelangt auf den Verhandlungstisch. An Zustimmung in der Bevölkerung mangelt es dafür nicht: Laut ZDF-"Politbarometer" waren Ende November 69 Prozent der Deutschen für eine Impfpflicht.

Für viele stellt sich nun die Frage: Warum nicht gleich so? Schließlich ist die Impfpflicht in Deutschland keine Neuheit. Ob im Fall von Masern, Polio oder Pocken: In der Vergangenheit sah sich Deutschland immer wieder gezwungen, die persönliche Freiheit dem Gemeinwohl unterzuordnen. Was hält die Entscheidungsträger also zurück?

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Bis zu 20 Pflichtimpfungen in der DDR

Tatsächlich gab es bereits zuvor Krankheiten, denen laut Politik nur mit einer Impfpflicht beizukommen war. 1807 führte Bayern – als erstes Land weltweit – die Impfpflicht gegen Pocken ein. Skeptiker gab es übrigens schon damals: Wie der NDR schreibt, lebten einige Menschen in der Angst, der Piks könne sie in Kühe verwandeln. Nichtsdestotrotz trat 1874 mit dem Reichsimpfgesetz die erste deutschlandweite Impfpflicht in Kraft – drei Jahre zuvor hatten die Pocken rund 180.000 Menschen im Kaiserreich das Leben gekostet. Wer sich nicht immunisieren lassen wollte, dem drohte ein Bußgeld, Haft oder die Zwangsimpfung. Diese Impfpflicht sollte mehr als 100 Jahre Bestand haben.

Erst Mitte der 1970er-Jahre, wenige Jahre, bevor die WHO die Pocken für ausgerottet erklärt, wird die Pocken-Impfpflicht aufgehoben. Allerdings nur in Westdeutschland. Ohnehin, so schreibt der MDR, vertrat die Staatsführung der DDR diesbezüglich einen deutlich rigoroseren Ansatz. Eine immunisierte, sprich: gesunde Bevölkerung, habe die Überlegenheit des sozialistischen Systems zeigen sollen. Jeder Bürger musste sich bis zum 18. Lebensjahr bis zu 20-mal impfen lassen. Das zeigte Wirkung: Die Infektionszahlen sanken enorm, besonders die Polio-Ansteckungen gingen massiv zurück.

Heute ist nur eine Impfung in Deutschland verpflichtend: Seit dem 1. März 2020 müssen alle Kinder ab einem Alter von einem Jahr, die einen Kindergarten oder eine Schule besuchen, gegen Masern geschützt sein. Auch alle nach 1970 geborenen Menschen, "die in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber oder Geflüchtete untergebracht sind" und Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen aus demselben Jahrgang müssen eine Immunisierung gegen die hoch ansteckende Infektionskrankheit nachweisen. Wer sich nicht daran hält oder Ungeimpfte beschäftigt, dem droht laut Bußgeldkatalog eine Geldstrafe von bis zu 2500 Euro.




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Eine Frage der Verhältnismäßigkeit

Eine Impfpflicht ist also weder juristisches, noch politisches Neuland und könnte auch im Kampf gegen das Coronavirus Anwendung finden – unter strengen Voraussetzungen. Grundsätzlich, so erklärt Oliver Pieper, Jurist und Forscher an der Universität Jena, ist die rechtliche Ausgangslage für eine Impfpflicht immer dieselbe: An erster Stelle stünde in jeden Fall "die Frage nach deren Verhältnismäßigkeit".

Im Fall von hochansteckenden, potenziell tödlichen Krankheiten, so der Jurist, müssen stets zwei Rechtsgüter gegeneinander abgewogen werden, die im Falle der Impfpflicht von Natur aus in Konflikt zueinander stünden: das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung sowie der "Auftrag des Staates, das Leben und die Gesundheit seiner Bürger zu schützen". Am Ende müsse eine Impfpflicht der letzte Ausweg sein – sollte die Bevölkerung auf andere Weise geschützt werden können, ist sie praktisch vom Tisch.

Dadurch ließe sich auch erklären, warum die Regierung im Fall von Masern eine Impfpflicht durchsetzen konnte. Denn: Je gefährlicher und ansteckender die Krankheit, desto schwerer wiegt die Aufgabe des Staates, seine Bürger zu schützen – auch auf Kosten der Selbstbestimmung. Doch war Corona, als es sich Anfang 2020 ausbreitete, weit weniger tödlich als Masern und Pocken. Nun mutierte das Virus allerdings über die letzten zwei Jahre mehrfach, wurde immer ansteckender und gefährlicher. Doch ist in diesem Fall ein weiterer Punkt entscheidend, sagt Pieper: Anders als bei Masern, droht die Corona-Pandemie gegenwärtig das Gesundheitssystem zu überlasten – ein weiteres Pro-Argument auf der Seite der Impfpflicht-Befürworter. Außerdem könnte der Eingriff in die persönliche Freiheit andere Grundrechte schützen: Schließlich könnte sich ein neuerlicher Lockdown dadurch erübrigen.

Wenn ja: Für wen gilt die Impfpflicht?

Was die rechtlichen Voraussetzungen für eine Corona-Impfpflicht angeht, sieht es folglich gar nicht schlecht aus. Angenommen also, der Pflichtpiks kommt: Gilt er dann direkt für alle? Zunächst einmal: In Deutschland besteht bereits eine Corona-Impfpflicht – zumindest für bestimmte Berufsgruppen. Seit dem Frühjahr ist die Impfung für die mehr als 180.000 Angehörigen der Bundeswehr "duldungspflichtig". Ähnliches gilt mittlerweile auch für die Gesundheitsbranche: Bis Mitte März 2022 müssen Beschäftigte in Einrichtungen mit schutzbedürftigen Menschen wie Pflegeheimen und Kliniken ihren Impf- oder Genesenenstatus vorweisen (der stern berichtete).

Dass nur bestimmte Berufsgruppen zur Impfung verpflichtet werden, ist eine von mehreren denkbaren Varianten. "Ein weiteres Beispiel wäre aber auch die Konstellation der Masernimpfpflicht, bei der Kinder, Jugendliche und Mitarbeiter für den Besuch bzw. die Arbeit in Kindertageseinrichtungen und Schulen geimpft sein müssen", erklärt Pieper.

Übrigens: Egal in welcher Form Impfen obligatorisch wird: Sobald eine ausreichend hohe Impfquote erfüllt und damit eine Überlastung des Gesundheitssystems abgewehrt ist, "entfiele eines der stärksten Argumente für eine Impfpflicht", sagt Pieper. Die Impfpflicht müsste dann wahrscheinlich wieder aufgehoben werden. Aber das ist noch reine Zukunftsmusik.

Quellen: NDR; MDR; Gesundheitsministerium

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