1,8 Millionen Infizierte? Epidemiologe warnt vor Übertragbarkeit der Heinsberg-Studie

Die Heinsberg-Studie legt nahe, dass in Deutschland bereits 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert sein könnten – ein Großteil davon symptomlos. Experten mahnen aber zur Vorsicht. Denn ob aus einer Hotspot-Studie Rückschlüsse auf ganz Deutschland gezogen werden können, bleibt umstritten.

Der beschauliche Landkreis Heinsberg ist einer der Orte in Deutschland, der am frühesten und stärksten vom Coronavirus betroffen war. Nach einer Karnevalssitzung breitete sich SARS-CoV-2 rasant in der Bevölkerung aus – besonders betroffen war die Gemeinde Gangelt mit ihren circa 12.000 Einwohnern.

Genau diese Gemeinde nahm der Virologe Hendrik Streeck vom Universitätsklinikum Bonn für eine Studie unter die Lupe, um den genauen Ausbreitungsgrad des Virus zu bestimmen und die daraus resultierenden Todesfälle.

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Als er Anfang April bereits Zwischenergebnisse daraus kommunizierte, aus denen sich Lockerungen der Kontaktsperren ableiten ließen, geriet er dafür in die Kritik. Deutschlands Chef-Virologe, Christian Drosten, war damit gar nicht einverstanden – ihm fehlten die genauen Informationen zu Methodik und Zusammensetzung der untersuchten Fälle.

22 Prozent der Infektionen verliefen symptomlos

Am Montag veröffentlichten Streeck und sein Team nun das erste wissenschaftliche Manuskript der umstrittenen Studie. Untersucht wurden sechs Wochen nach Ausbruch von Corona 919 Bewohner von Gangelt aus insgesamt 405 Haushalten im Zeitraum vom 30. März bis 6. April. Sie wurden befragt und mittels Blutprobe und Rachenabstrich auf SARS-CoV-2 getestet.

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  • Daraus ergab sich, dass bereits 15 Prozent der untersuchten Personengruppe eine Infektion durchgemacht hatte. 22 Prozent davon hatten aber gar keine Symptome. Kinder waren in der Testgruppe etwas unter-, ältere Menschen etwas überrepräsentiert.

    Sterberate in Gangelt lag nur bei 0,37 Prozent

    Die Studie errechnete anhand der Infektionen in der Testgruppe, wie viele Menschen tatsächlich zu dem Zeitpunkt in Gangelt infiziert gewesen sein mussten. Die Differenz zu der Anzahl der tatsächlich gemeldeten Fälle ergebe nämlich eine Dunkelziffer, so Streeck. Im Falle Gangelt lag diese sage und schreibe fünfmal höher als die Zahl der gemeldeten Fälle.

    Laut Streeck und seinem Team lässt sich so auch die Dunkelziffer für Gesamt-Deutschland bestimmen: Geht man von 6700 SARS-CoV-2 assoziierten Todesfällen in der Republik aus, läge die Dunkelziffer an Infizierten bei 1,8 Millionen. Also zehn Mal höher als die laut RKI offiziell gemeldeten 162.496 Fälle (Stand 3.5.2020).

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    Aus dieser Dunkelziffer lässt sich wiederum die Sterblichkeitsrate berechnen, die die Studie ermittelt hat. Da die Anzahl, der mit Covid-19 verzeichneten Toten im relevanten Zeitraum in Gangelt lediglich bei sieben Fällen lag, berechneten Streeck und sein Team daraus eine Sterblichkeitsrate, die sogenannte Infection Fatality Rate (IFR), von lediglich 0,37 Prozent – also eine relativ niedrige Rate.

    WHO geht von wesentlich höherer Sterblichkeit durch Covid-19 aus

    „Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt. Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit (IFR) bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, sagte Streeck.

    "Um Modellrechnungen zu machen, wie sich das Virus in der Bevölkerung auswirkt, brauchen wir Kenngrößen, um die Modelle zu verbessern", führte der Virologe weiter aus. Bezüglich der Sterblichkeit wies Streeck darauf hin, dass man bisher von einem Spektrum von 0,2 bis 1,5 Prozent ausgegangen sei, die Weltgesundheitsorganisation WHO habe sogar von 3,4 Prozent gesprochen. "Diese Spannbreite können wir durch diese Studie jetzt verringern auf einen sehr viel kleineren Fehlerbereich", so der Virologe.

    Epidemiologe rät zur Vorsicht bezüglich der Übertragbarkeit der Studie auf ganz Deutschland

    Was die Übertragbarkeit der Studie aus Gangelt auf ganz Deutschland anbelangt, mahnt Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, allerdings zur Vorsicht: "Ich bin da doch eher zurückhaltend", sagte er. Denn die Bezugsgruppe in Gangelt sei klein und der Anteil der Verstorbenen sei mit sieben Personen relativ gering.

    Da die Daten über Todesfälle vom lokalen Gesundheitsamt stammten, könnte es sein, dass nicht alle mit eingeflossen seien und somit die niedrige Sterblichkeitsrate nicht stimmte, kritisierte Krause. So bemängelte er auch, dass zum Untersuchungszeitpunkt der Eintrag in Seniorenheime noch gar nicht stattgefunden hätte. Insgesamt bezeichnete Krause die Studie aber als „wertvoll“ und „überzeugend“. 

    Streeck sieht Heinsberg-Studie als wichtige Grundlage für weiterführende Forschungen

    Dass man mit Schätzungen natürlich vorsichtig sein müsse, räumte auch Streeck ein. Dennoch sehen er und sein Kollege und Co-Autor Gunther Hartmann, Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn, die Studie als wichtige Basis für weiterführende Forschungen: „Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern – bislang ist hierzu die Datengrundlage vergleichsweise unsicher“, so Hartmann.

    Die Studie liefere außerdem wichtige Hinweise für die Forschung – wie etwa zum Infektionsrisiko in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen, zum höheren Schweregrad der Erkrankung unter den besonderen Bedingungen eines massiven Infektionsereignisses wie in Gangelt, oder zum Infektionsrisiko innerhalb von Familien.

    Infektionsrisiko innerhalb eines Haushalts gar nicht so hoch wie gedacht

    Da die Studie sich auf Haushalte bezog, zeigte sich auch, dass das Infektionsrisiko innerhalb einer Familie oder im Haus lebenden Personen gar nicht so hoch ist, wie vorher angenommen. Statt bei 100 Prozent stieg das Infektionsrisiko lediglich mit der steigenden Personenzahl im Haushalt auf bis zu 43 Prozent an. Woran das liegt, ist aber laut Streeck nicht klar.

    Zusammengefasst lässt sich aus der Studie also ableiten, dass

    • jede fünfte Infektion symptomlos verläuft
    • vermeintlich Gesunde das Virus in sich tragen und andere infizieren können
    • Menschen, die in einem Haushalt leben, sich nicht zwangsläufig anstecken
    • die Teilnahme am Karneval die Infektionsrate deutlich erhöhte und auch die Symptome bei den Infizierten

    Martin Exner, Leiter des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit und Co-Autor der Studie sieht dennoch in den Ergebnissen eine Bestätigung, dass Abstands- und Hygieneregeln wichtig im Umgang mit Corona sind. „Dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Krankheitssymptome verläuft, legt nahe, dass man Infizierte, die das Virus ausscheiden und damit andere anstecken können, nicht sicher auf der Basis erkennbarer Krankheitserscheinungen identifizieren kann“, erklärt Exner.

    Streeck selbst äußert sich dennoch vorsichtig in Bezug auf mögliche Maßnahmen, die sich aus der Studie ableiten lassen: „Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen“, sagte er. „Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik.“

    Mit Material von  dpa

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