Die Kieferorthopäden in Deutschland müssen vorerst keine Konsequenzen fürchten – obwohl der Bundesrechnungshof ihnen 2018 eine Art Ohrfeige verpasst hatte: Weil fast die Hälfte der Kinder und Jugendlichen für mehr als eine Milliarde Euro behandelt wird, ohne dass Art, Dauer und Erfolg der Behandlung klar sind, müsse der Nutzen „endlich erforscht werden“, hatte der Bundesrechnungshof 2018 gefordert.
Geforscht wird zwar. Nach monatelangen Gesprächen zwischen Bundesgesundheitsministerium, Krankenkassen und Zahnärzteschaft liegt nun ein Plan mit vier Maßnahmen auf dem Tisch. Kritiker sind dennoch nicht begeistert: „Nun rächt sich der lange Dornröschenschlaf der Bundesregierung“, sagt Kirsten Kappert-Gonther, für die Grünen im Gesundheitsausschuss des Bundestages. „Bis Daten zu Art, Dauer und Erfolg der Behandlung vorliegen, werden Jahre ins Land ziehen.“
Der vier-Punkte-Plan sieht folgende Maßnahmen vor:
- Patienten befragen: Um überhaupt Daten zur Verbreitung von Zahn(fehl)stellungen zu bekommen, sollen diese in der nächsten Deutschen Mundgesundheitsstudie (DMS) erhoben werden. Seit 1989 werden in diesen Studien regelmäßig mehrere tausend Menschen zahnmedizinisch untersucht und ausführlich befragt. 2022 ist die sechste Mundgesundheitsstudie geplant. Zahnstellungen waren bislang nur in der ersten DMS enthalten. Dies soll nun einen Vergleich über drei Jahrzehnte ermöglichen.
- Abrechnungsdaten auswerten: Die Krankenkassen und die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen sollen rückblickend ihre kieferorthopädischen Abrechnungsdaten auswerten. Damit soll geklärt werden, wie viele Zahnstellungen in welcher Ausprägung behandelt wurden, wie lange und mit welchen Kosten.
- Leitlinie für Behandlungszeitpunkt: Eine neue Leitlinie soll den „idealen Behandlungszeitpunkt“ für „kieferorthopädische Anomalien“ identifizieren. Sie war jedoch ohnehin seit Januar angemeldet. Die Begründung thematisiert nicht die Frage, ob Zahnspangen wirklich immer nötig sind, sondern geht von sehr positiven Effekten aus, etwa dass Karies und Parodontitis „durch die Korrektur von Zahnfehlstellungen teilweise präventiv beeinflusst“ würden.
- Menschen mit und ohne Spangen vergleichen: Die sogenannte NAKO-Gesundheitsstudie soll auch im Hinblick auf die Folgen kieferorthopädischer Behandlungen ausgewertet werden. Die NAKO (Nationale Kohorte) ist eine Langzeit-Bevölkerungsstudie über mehr als 20 Jahre zu den Ursachen von Volkskrankheiten. Wenn hier nun kieferorthopädische Daten erhoben werden, könne man vergleichen, wie sich die Mundgesundheit bei Menschen mit und ohne Zahnspangen entwickelt.
Das Bundesgesundheitsministerium findet, mit diesen Maßnahmen lasse sich „das Wissen über die kieferorthopädische Versorgung der Bevölkerung und die Auswirkungen verschiedener Behandlungsmaßnahmen in einem überschaubaren Zeitrahmen von zwei bis drei Jahren wesentlich erweitern“. Es sei „davon auszugehen, dass die Vorschläge des Gutachtens überwiegend umgesetzt werden können“.
Der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages hat den Bericht des Ministeriums jetzt zur Kenntnis genommen und betont, man erwarte bis 31. März 2022 einen Bericht zum Sachstand „über die zugesagten Maßnahmen“.
Die ursprünglichen Vorschläge des Bundesrechnungshofes waren deutlich weiter gegangen: Der hatte konkret empfohlen, nicht nur die kieferorthopädische Versorgungslage, Behandlungsnotwendigkeit und Behandlungsziele zu erfassen und auszuwerten, sondern auch eine Überprüfung der Kassenleistung und der zahlreichen Selbstzahlerleistungen angemahnt.
„Was wir brauchen, ist eine grundlegende Reform der Kieferorthopädie“, findet Alexander Spassov, selbst Kieferorthopäde und Kritiker seiner Kollegenschaft, seitdem er an dem Thema forscht. Man habe längst „einen Berg“ an Evidenz über Nutzen, Schaden, Effizienz: „Wenn die geplanten Maßnahmen nicht in eine Gesamtstrategie eingebettet werden, werden die Ergebnisse nutzlos sein.“ Um etwa Abrechnungsdaten auszuwerten, brauche man gleichzeitig Qualitätskriterien. „Wir müssen eine Diskussion darüber führen“, fordert Spassov, „was in der Kieferorthopädie als Nutzen und Schaden gelten sollte und was wirklich medizinisch notwendig ist.“
Bereits jetzt müssten Patienten besser vor Eingriffen mit fragwürdigem Nutzen geschützt werden, fordert Kirsten Kappert-Gonther. Nötig seien etwa einfachere Möglichkeiten, sich Zweitmeinungen einzuholen und einen Kostenvoranschlag bewerten zu lassen.
Die Autorin des Textes ist neben ihrer Tätigkeit als freie Journalistin bei der Verbraucherzentrale NRW als Referentin für den Gesundheitsmarkt angestellt.
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