In vielen Ländern steigen die Inzidenzen rapide an: Delta beherrscht das Infektionsgeschehen in Europa. Gerade im Hotspot Großbritannien sowie in den Niederlanden und Portugal gehen die Zahlen aber nun plötzlich wieder zurück. Ein Epidemiologe erklärt, woran das liegen könnte und auch ob die Entwicklung nachhaltig ist.
Die Delta-Variante ließ die Infektionszahlen in Großbritannien in den letzten Wochen rasant nach oben schnellen. Mitte Juli vermeldete das Gesundheitsministerium über 60.000 Fälle an nur einem Tag. Die Zahlen erreichten somit fast das Niveau der starken zweiten Welle Anfang Januar. Und das obwohl in Großbritannien mittlerweile mehr als 70 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft ist – und immerhin über 88 Prozent erstgeimpft.
Doch seit einigen Tagen bewegt sich die Kurve in Großbritannien wieder deutlich nach unten: Die Fallzahlen sanken seit 15. Juli um mehr als 50 Prozent auf etwas über 24.000 Fälle pro Tag, die am 26. Juli registriert wurden. Die 7-Tage-Inzidenz liegt derzeit bei 490 Fällen pro 100.000 Einwohner. Einige Tage zuvor lag sie noch deutlich oberhalb der 500er-Marke. Insgesamt bleibt das Niveau der Fallzahlen damit zwar sehr hoch, aber warum sinken die Zahlen auf einmal? ourworldindata.org Die Zahlen in Großbritannien gehen seit Mitte Juli deutlich zurück
Schulschließungen und Sommereffekt könnten eine Rolle spielen
Der Wissenschaftler Kit Yates von der Universität Bath mutmaßt, dass dies mit den geschlossenen Schulen zusammenhängen könnten, schreibt der Tagesspiegel. Auch die sommerlichen Temperaturen, bei denen das Leben draußen stattfindet, könnten laut Yates zum rückläufigen Infektionsgeschehen beigetragen haben. Auch die Tatsache, dass sich viele Briten im Urlaub befinden und sich nicht testen lassen, könnte demnach eine Rolle spielen.
Auch der Epidemiologe Timo Ulrichs von der Akkon Hochschule in Berlin vermutet, dass diese Faktoren eine Rolle spielen könnten. „Es wird ferienbedingt weniger getestet, die Menschen sind nicht vor Ort, sondern im Urlaub und verzichten dort weitgehend aufs Testen", erklärt er auf Nachfrage von FOCUS Online. Außerdem hielten sich wegen des guten Wetters die Menschen mehr draußen auf, was eine Übertragung unwahrscheinlicher mache.
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In Bezug auf England mutmaßt Ulrichs noch, dass gerade die Aufhebung sämtlicher Corona-Beschränkungen die Menschen vielleicht dennoch dazu bewegt haben könnte, insgesamt vorsichtiger zu sein.
Für Schottland, wo die Inzidenzen im Gegensatz zum Südwesten Großbritannien tatsächlich auch regional stark rückläufig sind, könnte zudem ein weiterer Faktor Teil der Erklärung sein: Schottland legt seine eigenen Corona-Maßnahmen fest und will anders als der Rest Großbritanniens erst am 9. August bei rückläufiger Tendenz weitere Restriktionen aufheben. Die Maßnahmen dort sind tendenziell aktuell also strenger als anderswo im Vereinigten Königreich.
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Auch in den Niederlanden geht das Infektionsgeschehen zurück
Doch tatsächlich ist Großbritannien nicht das einzige Land, in dem es trotz massiver Verbreitung der Delta-Variante insgesamt zu einem rückläufigen Infektionsgeschehen kommt. Auch in den Niederlanden gehen die Zahlen seit ein paar Tagen deutlich zurück – obwohl das Land laut RKI seit Dienstag (27.7.) als Hochinzidenzgebiet gilt und das Auswärtige Amt eine Reisewarnung dafür ausgesprochen hat.
Our world in data Die Entwicklung der Fallzahlen in den Niederlanden geht derzeit deutlich nach unten
Laut Corona-Dashboard der holländischen Regierung lag die Zahl der Neuinfektionen am 16. Juli noch bei über 11.000 Fällen in 24 Stunden. Innerhalb der letzten zehn Tage sanken die täglichen Neuinfektionen auf 3914 Fälle ab (Stand: 26 Juli). Die 7-Tage-Inzidenz liegt derzeit bei über 266 Fällen pro 100.000 Einwohner, vor einer Woche lag sie aber noch erheblich höher: bei 407 Fällen. Das Niveau ist daher ähnlich wie in England immer noch hoch, aber dennoch rückläufig.
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Holländische Regierung verschärft erneut Regeln
Auch hinter diesem Rückgang könnten veränderte Maßnahmen stecken: Denn erst Ende Juni hatten die Niederlande Corona-Regeln fast vollständig aufgehoben und auch Großveranstaltungen für Geimpfte und Negativ-Getestete erlaubt. Bei einem Open-Air-Festival in Utrecht infizierten sich daraufhin 1000 Menschen. Seitdem hat die holländische Regierung die Regeln wieder verschärft: Nachtclubs und Discotheken sind wieder geschlossen und auch in der Gastronomie wurden die Kapazitäten und Öffnungszeiten erneut beschränkt. Außerdem rief Ministerpräsident Mark Rutte die Bevölkerung dazu auf, wieder im Homeoffice zu arbeiten und einen Mindestabstand zu anderen Personen von 1,5 Metern jederzeit einzuhalten. So könnten die strengeren Maßnahmen zu den sinkenden Zahlen beigetragen haben.
Da in den Niederlanden mittlerweile 59 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft ist und 83 Prozent wenigstens eine Impfdosis erhalten hat, will die Regierung die Reiseregeln für ihre Bürger jetzt aber schon wieder lockern. Ab Dienstag sollen Reisewarnungen für EU-Länder mit hoher Inzidenz abgeschafft werden, teilte die Regierung am Montag mit. Zur Zeit wird noch von nicht notwendigen touristischen Reisen etwa nach Spanien, Portugal und Zypern abgeraten. Reisewarnungen nur aufgrund von Infektionszahlen seien nicht verhältnismäßig, erklärte die Regierung und verwies auch auf den hohen Impfgrad in Europa.
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Leichter Infektionsrückgang auch in Portugal
In Portugal zeigt sich ebenfalls seit einigen Tagen ein leichter Rückgang des Infektionsgeschehens – nachdem seit Juni die Infektionszahlen kontinuierlich stiegen und dem Land eine dritte Welle bescherten. Mitte Juli registrierte die portugiesische Gesundheitsbehörde noch über 3300 Neuinfektionen pro Tag. Erst seit ein paar Tagen gehen sie zurück und liegen nun bei 1610 Neuinfektionen pro Tag (Stand: 26.7.). Die 7-Tage-Inzidenz liegt aktuell in Portugal bei 214, am 21. Juli lag sie noch bei 224.
Am höchsten waren die 7-Tage-Inzidenzen bisher in der Algarve und in Lissabon. Aber auch dort sanken sie nun merklich. In der Algarve liegt sie laut portugiesischem Gesundheitsministerium aktuell bei 419. Am 19. Juli lag sie noch bei 493. In Lissabon liegt sie aktuell bei 315, am 18.7. gaben sie die Behörden noch mit 348 an.
Our world in Data Seit ein paar Tagen nimmt das Infektionsgeschehen in Portugal leicht ab
Die rückläufigen Zahlen dort könnten ebenfalls mit strengeren Maßnahmen in Zusammenhang stehen, die wegen der Situation in Portugal kürzlich verhängt wurden. So gibt es in Lissabon sowie in großen Teilen erhebliche Einschränkungen bezüglich der Öffnungszeiten und Kapazitäten von Gastronomie und Geschäften. Das gilt besonders für Feiertage und Wochenenden.
Außerdem gilt wieder eine nächtliche Ausgangssperre von 23 bis 5 Uhr für Städte wie Lissabon und Regionen mit hohem Infektionsgeschehen. In Deutschland gilt Portugal seit 7. Juli als Hochinzidenzgebiet. In Portugal sind derzeit 51 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft; 15 Prozent sind erstgeimpft.
Rückgang nicht von langer Dauer befürchtet Ulrichs
Dass diese positive Entwicklung in Portugal als auch in Großbritannien und den Niederlanden von langer Dauer ist, glaubt Epidemiologe Timo Ulrichs aber nicht. „Ich befürchte, dass die Zahlen nach Reiserückkehr vieler Menschen in diesen Ländern wieder steil nach oben gehen werden und es sich bei dem Knick nur um ein vorübergehendes Phänomen handelt“, schränkt er ein.
„Es gibt keinen Grund, weshalb die Inzidenz in diesen Ländern quasi von alleine dauerhaft sinkt – vor allem nicht wegen der deutlich ansteckenderen Delta-Variante.“ Dies wäre nur der Fall, wenn die Bevölkerung durch Durchimpfung und durch Durchseuchung schon so immun geworden sei, dass das Virus nicht mehr so häufig auf Immunnaive treffen könne, führt er aus. Aber dieser Zustand sei bisher weder in Großbritannien noch in den Niederlanden oder Portugal erreicht.
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