Reproduktionzahl statt Verdopplung: Das steckt hinter Merkels Corona-Rechnung

Verdopplungszeit, Reproduktionszahl – derzeit fallen viele Kennziffern, an denen wir uns in Bezug auf Corona orientieren sollen. Angela Merkel hat gestern von einer besonders wichtigen Zahl gesprochen – und gesagt, warum bei dieser auch kleine Schwankungen schon einen großen Unterschied machen.

Bislang war die Verdopplungszeit eine besonders im Fokus stehende Kennzahl. Sie soll aussagen, wie viele Tage es dauert, bis sich die Zahl der nachweislich mit dem Coronavirus Infizierten verdoppelt hat. Die Berechnung scheint einfach, die Bedeutung der Zahl simpel – je höher, desto besser.

Doch mathematisch gibt es Probleme: "Die Verdopplungszeit wird unter der Annahme berechnet, dass die Anzahl der bekannten Infektionen exponentiell wächst", sagt Moritz Kaßmann, Experte für Angewandte Analysis an der Universität Bielefeld. Doch die Zahl der registrierten Infizierten wächst nicht mehr exponentiell. Das liegt auch an den bestehenden Einschränkungen im öffentlichen Leben. Damit verliert die Zahl ihre Aussagekraft: "Man kann deswegen keineswegs auf die Zukunft schließen, wie es der Sinn der Verdopplungszeit eigentlich ist", sagt Kaßmann.

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Reproduktionsrate ist die derzeit entscheidende Zahl

Eine Alternative zur Verdopplungszeit ist die sogenannte Reproduktionsrate. Die Basisreproduktionszahl R0 sagt aus, wie viele Menschen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Je niedriger der Wert, desto besser.

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Liegt die Reproduktionsrate bei mehr als 1, steckt ein Infizierter im Mittel mehr als einen anderen Menschen an – so erhöht sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen. Liegt die Rate unter 1, steckt ein Infizierter im Mittel weniger als einen anderen Menschen an – und die Epidemie läuft nach und nach aus.

Laut Robert Koch-Institut (RKI) liegt die Basisreproduktionszahl für den Erreger Sars-CoV-2 im Generellen und ohne Gegenmaßnahmen zwischen 2,4 und 3,3. Das heißt, dass ein Infizierter im Mittel mehr als zwei oder sogar mehr als drei weitere Menschen ansteckt – und sich das Virus damit schnell verbreitet. Es müssten also zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden, um die Epidemie in den Griff zu bekommen. 

Ob die Rate bei 1,0 oder 1,2 liegt, macht einen großen Unterschied

Während Angela Merkel kürzlich auch noch über eine Verdopplungszeit von mehr als zehn Tagen als Richtwert gesprochen hatte, war bei der gestrigen Pressekonferenz nun eher von der Reproduktionsrate die Rede.

„Die Kurve ist flacher geworden“, erklärte Angela Merkel. Wichtig sei dennoch weiterhin, das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. „Wir sind jetzt ungefähr bei einem Reproduktionsfaktor von 1,0“, erklärte die Bundeskanzlerin. Das könne man aus Modellbetrachtungen ableiten.

Für Deutschland heißt das, dass derzeit jeder Infizierte im Mittel einen anderen Menschen ansteckt. „Schon wenn wir annehmen, dass jeder 1,1 Menschen ansteckt, wären wir im Oktober wieder an der Leistungsgrenze unseres Gesundheitssystems mit den angenommenen Intensivbetten angelangt“, erklärt Merkel weiter.

Denn ginge man von einer Reproduktionsrate von 1,1 aus, würden im Mittel zwar immer noch neun von zehn Menschen nur einen anderen anstecken. Einer dieser zehn Infizierten würde aber zwei anstecken. Rechnet man das hoch, kann das zu einem erheblichen Unterschied führen.

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Würden wir von einem Wert von 1,2 ausgehen, „also, dass jeder 20 Prozent mehr Menschen ansteckt“, sagte Merkel weiter, dann kämen wir schon im Juli an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems. Denn dann würden zwar vier von fünf Menschen immer noch nur einen anderen im Schnitt anstecken, jeder Fünfte allerdings schon zwei weitere Menschen, sodass sich die Zahl der Infizierten deutlich schneller erhöhen würde. Bei 1,3 ginge das noch schneller, die Belastungsgrenze würde schon im Juni erreicht – und so weiter.

„Das hört sich nicht viel an“, erklärte Angela Merkel. Aber tatsächlich macht es einen erheblichen Unterschied.

Helmholtz-Forscher zeigen drei Szenarien auf

Auch das Helmholtz-Institut erklärte in einer Stellungnahme, dass die derzeitige Reproduktionsrate bei etwa 1 liege, wie verschiedene Untersuchungen zeigten. Das gelte für die gesamte Bundesrepublik ebenso wie für die einzelnen Länder.

"In Anbetracht der Tatsache, dass Rt (Anm. der Redaktion: die sogenannten zeitabhängige Reproduktionsrate) zu Beginn der Pandemie nach diesen Abschätzungen zwischen 3 und 5 gelegen hat, kann dies bereits als ein großer Erfolg der Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung gewertet werden", heißt es in dem Papier. Weiter zeigten die Wissenschaftler dort drei Szenarien auf:

1. Werden die Kontaktbeschränkungen so gelockert, dass die Reproduktionszahl wieder ansteigt, würde das das Gesundheitssystem innerhalb weniger Monate stark überlasten. Denn die Zahl der benötigten Intensivbetten würde dann massiv steigen.

2. Werden die Kontaktbeschränkungen und weitere Maßnahmen so gelockert, dass eine Reproduktionszahl von 1 gehalten werden kann, sollte das Gesundheitssystem nach Einschätzung der Wissenschaftler vermutlich stabil bleiben. Allerdings könnten bei diesem Szenario Kontaktbeschränkungen über Jahre aufrechterhalten werden müssen, um eine vollständige Immunisierung der Gesellschaft zu ermöglichen.

3. Im dritten Szenario werden die Kontaktbeschränkungen vorerst beibehalten und flankierende Maßnahmen beschlossen, um die Reproduktionszahl dauerhaft deutlich unter 1 zu halten. Ist dieser Ausgangswert erreicht, können die Maßnahmen gelockert werden, allerdings begleitet von massiven, ausgeweiteten Tests, um Infektionsketten nachverfolgen und eine erneute Infektionswelle verhindern zu können.

Als bestes dieser möglichen Zukunftsbilder empfahlen die Helmholtz-Wissenschaftler das dritte Szenario.

Wie verschiedene Ergebnisse erklärbar sind

Wie die Reproduktionsrate berechnet wird, ist komplex. Wissenschaftler können verschiedene Modelle wählen und müssen Parameter schätzen. "Mit verschiedenen Methoden kommt man zu verschiedenen Ergebnissen", sagt Moritz Kaßmann von der Uni Bielefeld.

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Das zeigte sich erst in dieser Woche. Während Angela Merkel am Mittwoch (15.4.) von einer Reproduktionszahl von 1,0 sprach, war RKI-Präsident Lothar Wieler am Dienstag (14.4.) davon ausgegangen, dass ein infizierter Mensch in Deutschland durchschnittlich 1,2 weitere Menschen anstecke.

Von einer Eindämmung der Epidemie in Deutschland wollte der RKI-Chef daher nicht reden, lediglich von einer Verlangsamung. Damit vom Abflauen der Epidemie die Rede sein könnte, erklärte auch Wieler, müsse die Reproduktionszahl dauerhaft unter 1 liegen. 

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