Das Warten hat kein Ende

Sprechstunden, akute Hilfen, Unterstützung bei der Therapeutensuche: Im April 2017 wurde die psychotherapeutische Versorgung grundlegend reformiert. Seither können sich gesetzlich Versicherte mit psychischen Problemen direkt zu Psychotherapeuten in eine Sprechstunde begeben. Diese sind zudem leichter telefonisch zu erreichen und können in akuten Krisen zeitnah Sitzungen anbieten.

Das große Ziel: die langen Wartezeiten verkürzen. Die Versicherten sollten schneller ein erstes Gespräch mit einem Psychotherapeuten führen können und bei Therapiebedarf eher an einen Behandlungsplatz kommen.

Ein Jahr nach der Reform ziehen Psychotherapeutenverbände nun Bilanz. Neben kleinen Pluspunkten gibt es ein dickes Minus. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) hat am Mittwoch die Ergebnisse einer Befragung bei mehr als 9400 Psychotherapeuten mit Kassenzulassung veröffentlicht.

Die guten Nachrichten

Die Sprechstunde kommt dabei gut weg: „Vom ersten Anruf bis zum ersten persönlichen Gespräch vergehen nur noch 5,7 Wochen“, sagt der Präsident der BPtK, Dietrich Munz. Das sei immer noch viel Zeit, aber immerhin etwa sieben Wochen weniger als bei einer vergleichbaren Umfrage 2011. „Die Praxen sind Anlaufstellen bei seelischen Problemen geworden“, so der BPtK-Vorsitzende. Ein Viertel der Psychotherapeuten vermeldet sogar, dass sich nun auch Menschen aus prekären sozialen Verhältnissen, mit Migrationshintergrund sowie Ältere und Männer, aber auch jene, die schon lange Jahre unter einer Erkrankung leiden, eher an sie wenden. Soweit die guten Nachrichten.

Die schlechten Nachrichten

Brauchen die Patienten eine umfassende Psychotherapie, warten sie wie bisher. Im Schnitt dauert es 20 Wochen von dem ersten Anruf in einer Praxis bis zum Beginn einer Therapie. „Das sind fast fünf Monate. Das ist viel zu lang“, sagt Munz. In dieser Zeit können sich Erkrankungen verschlimmern oder chronisch werden. Tatsächlich ist die Wartezeit etwas kürzer als noch 2011. Mit der Reform hat das wenig zu tun, meint die BPtK.

  • Zum einen wurden seit 2010 etwa 2500 zusätzliche Kassenzulassungen an Psychotherapeuten auf dem Land vergeben.
  • Zum anderen würde sich mittlerweile jeder dritte Therapeut seinen Vollzeit-Kassensitz mit einem Kollegen teilen. 2010 war das nur jeder 17. Therapeut.

Teilen sich zwei Therapeuten einen vollen Sitz, bieten sie insgesamt meist mehr Behandlungstermine an als ein Einzelner mit vollem Sitz.

Die Krankenkassen weisen trotzdem weiter auf die Therapeuten, wenn sie auf die Wartezeiten angesprochen werden. Ein Kernproblem sei, dass viele Psychotherapeuten nur Teilzeit arbeiten, aber eine ganze Kassenzulassung besetzen, sagt Florian Lanz, Sprecher des GKV-Spitzenverbandes. „Hier erwarten wir von der BPtK mehr Engagement bei ihren Mitgliedern, statt nur auf andere zu zeigen.“

„Die Reform hat keine einzige zusätzliche Behandlungsstunde geschaffen“, beklagt dagegen Munz. Vielmehr reduzierte ein Drittel der Kassentherapeuten ihre Behandlungszeiten, um Sprechstunde, Telefondienst und Akuthilfe unterbringen zu können. Jeder zweite Psychotherapeut muss therapiebedürftige Patienten nach der Sprechstunde an Kollegen verweisen, weil kein Behandlungsplatz frei ist. Für viele Betroffene beginnt dann die große Suche – und das große Warten.

Gleichzeitig verwehren die Kassen Patienten immer öfter eine Behandlung bei privaten, ebenso qualifizierten Therapeuten. Dabei steht dieser Weg den Betroffenen rechtlich zu. (SPIEGEL ONLINE berichtete.)

Gesetzlich Versicherte können sich im Rahmen des Kostenerstattungsverfahrens auch bei staatlich anerkannten Psychotherapeuten ohne Kassenzulassung nach freien Plätzen umschauen. Unter bestimmten Umständen übernehmen die Versicherungen die Kosten. Therapeuten, Patienten und Verbände klagten jedoch seit der Reform zunehmend darüber, dass die Krankenkassen diesen alternativen Weg versperren würden.

Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung belegt das nun mit Zahlen. Sie hat 422 Psychotherapeuten mit privater Praxis zu ihren Erfahrungen seit April 2017 befragt. Dabei wird klar: Was die Kassen bisher als „spekulative Schilderungen“ oder unwahre Vorwürfe von sich wiesen, hat anscheinend System. Die privaten Therapeuten stellten der Umfrage zufolge seit der Reform ähnlich viele Anträge auf Kostenerstattung wie vorher. Verliefen vor April 2017 nahezu alle Anträge für die Patienten erfolgreich, ist es seit der Reform bei den Befragten nur noch jeder vierte.

Die Ablehnungsgründe sind hanebüchen:

  • Etwa die Hälfte aller Therapeuten berichtet, dass Anträge mit dem Hinweis abgelehnt wurden, die Kostenerstattung existiere seit dem 1. April 2017 nicht mehr. Tatsächlich ist diese im Sozialgesetzbuch festgeschrieben.
  • Sechs von zehn Befragten berichteten, dass auf die Terminservicestellen verwiesen wurde, weil diese einen Therapieplatz vermitteln würden. Diese vermitteln aber nur Termine in Sprechstunden oder Akuttherapien. Ein Behandlungsplatz ist damit nicht sicher.
  • Knapp 40 Prozent der befragten Therapeuten erlebten zudem, dass Kassen ihren Patienten mitteilten, dass Wartezeiten durchaus zumutbar seien, selbst wenn ihnen zuvor durch einen anderen Arzt oder Psychotherapeuten bescheinigt wurde, dass eine Behandlung dringlich ist.
  • Einigen Patienten wurde gar mitgeteilt, eine medikamentöse Behandlung sei ausreichend für sie.

„Die Entscheidung, eine Behandlung in einer Privatpraxis zu bezahlen, liegt nicht im Ermessen der Krankenkassen“, kontert die Bundestagsabgeordnete Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin beim Bündnis 90/Die Grünen. Versicherte hätten einen gesetzlichen Anspruch darauf, wenn Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten mit Kassenzulassung nicht verfügbar seien. Die Bundesregierung müsse daher sicherstellen, dass Betroffene zu ihrem Recht kommen und nicht aus Gründen der Kostenersparnis von ihren Krankenkassen abgewiesen werden.

In einer kleinen Anfrage machte sie die Bundesregierung im März auf das weiterhin vorherrschende Problem aufmerksam. Deren Antwort habe sie enttäuscht. „Die Regierung öffnet sich dem Thema wenig. Dabei handelt es sich doch nicht um Schönheitsoperationen, sondern um eine elementare Versorgung, an der es mangelt“, sagt sie. Es fehle in Deutschland gar nicht an Psychotherapeuten. Die Wartezeiten seien eine Folge der unzureichenden Bedarfsplanung, sagt sie. Das Problem: Hausgemacht – und vermeidbar. „In der Reform“, sagt sie, „wurde nur halbherzig gehandelt.“

„Was wirklich wirkt, sind zusätzliche Kassenzulassungen für Psychotherapeuten“, betont BPtK-Präsident Munz. Das habe die Erhebung der Kammer deutlich gezeigt. Sie fordert daher 7000 weitere Kassensitze.

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