Wenn Frauen trinken: Ein Schlaglicht auf eine Krankheit, die sich oft im Dunkeln abspielt

15 Jahre war das Leben von Jacqueline fremdbestimmt. Fremdbestimmt durch Alkohol. Bis zu fünf, sechs Flaschen Wein trank die Ergotherapeutin am Tag. Sie kippte den Alkohol wie Wasser. Dabei schmeckte er ihr nicht einmal. Die leeren Flaschen warf sie im Anschluss in Glascontainer. Als die Mengen zu groß wurden, stieg sie auf Wein aus Tetrapacks um. Weil das nicht so auffällt. Nicht so laut klirrt. Ein ständiges Versteckspiel. Dass sie süchtig ist, wollte sich Jacqueline jahrelang nicht eingestehen.

Als die Bombe platzt, sind manche Freunde und Angehörige überrascht: Alkoholkrank? Jacqueline? Nach außen hin führt sie ein perfektes Leben: Sie hat einen erfüllenden Job, ist glücklich verheiratet, hat zwei Kinder, einen Enkel und wohnt auf der Ferieninsel Usedom.

Dass sie sich oft alleine fühlt, wenn ihr Mann 14 Tage am Stück auf einer Förderplattform arbeitet, sieht kaum jemand. Dass die Einsamkeit noch schlimmer wird, als die erwachsenen Kinder ausziehen, auch nicht. Trost sucht sie beim Alkohol. Gründe zu trinken, gibt es damals viele: „Um zu vergessen, um schlafen zu können, um mich nicht allein zu fühlen“, sagt sie rückblickend.

Alkoholsucht gilt oft als Männerkrankheit. Dabei haben Frauen fast gleichgezogen. Nach Angaben des Drogen- und Suchtberichts der Bundesregierung trinken in Deutschland 18 Prozent der Männer so viel, dass ihr Konsum als riskant gilt. Bei den Frauen sind es 14 Prozent. Vielen von ihnen ist der Konsum nicht anzumerken: Denn anders als Männer, die auch in der Öffentlichkeit trinken, greifen Frauen eher heimlich zur Flasche, wenn sie alleine sind. 1,8 Millionen Menschen in Deutschland gelten als chronisch abhängig. Laut Statistik kommt auf zwei alkoholkranke Männer eine alkoholkranke Frau.

Die Einsamkeit ertränken

Der Filmemacher Walter Krieg hat zwei von ihnen für die Doku-Reihe „37 Grad“ begleitet. In ruhigen Bilder berichtet er aus dem Alltag der Frauen und zeichnet ihren Kampf gegen die Sucht nach. Das Schicksal von Jacqueline (49) und Claudia (51) steht stellvertretend für das hunderttausender Frauen in Deutschland und wirft ein Schlaglicht auf eine Krankheit, die sich oft im Dunkeln abspielt.

Claudia vor dem Aufnahmegespräch mit dem leitenden Arzt in der Suchtklinik: Schafft sie dieses Mal den Entzug?

Auch Claudia trinkt schon lange. Die 51-Jährige hat zahlreiche Entzüge hinter sich. Doch immer, wenn sie glaubt, von der Droge loszukommen, nimmt ihr Leben eine unvorhergesehene Wendung. Binnen eines Jahres sterben ihre Schwester und ihre Mutter. Ihren Kummer dämpft sie mit Prosecco. Der Alkohol, sagt sie, sei für sie wie eine Art „Medikament“. 

Wie konnte es so weit kommen? 

Claudia arbeitet früher als Marketing-Direktorin in der Modeindustrie. Ihr Leben besteht aus Geschäftsessen, Galas und Dienstreisen. Doch hinter der geschlossenen Hoteltür überkommt sie die Einsamkeit. Um das Gefühl zu unterdrücken, greift sie zur Flasche. Ein soziales Umfeld, das sie auffängt, hat sie nicht. Claudia hat kaum Freunde. Auch verheiratet ist sie nicht. Sie wünscht sich nicht sehnlicher als Nähe und merkt nicht, dass sie sich durch den Alkohol immer weiter in die Isolation drängt. Vor sieben Jahren gibt sie ihren Job auf. Die Sucht zwingt sie dazu.

Auch Jacquelines Leben droht zeitweise durch die Krankheit zu zerbrechen. Ihr Mann und ihre Tochter wollen ihr helfen, doch Jacqueline stößt beide vor den Kopf. „Ich wollte es nicht wahrhaben und es hat irgendwann genervt“, sagt sie. „Dann knallte die Tür und ich war weg.“ 

Der Alkohol entzweit die Familie

Durch das Verhalten der Mutter steht die Familie kurz vor dem Aus. Ihr Mann droht, sie zu verlassen. Die Tochter kommt kaum noch zu Besuch und ist verletzt, dass sie nicht einmal dem Enkel zuliebe auf das Trinken verzichtet. „Das schlechte Gewissen kam hinterher“, sagt Jacqueline. „Sucht nimmt so viel Platz ein in dem Leben, dass sich alles nur noch darum dreht. Und dann ist alles andere egal und wird ausgeblendet.“

Als ihr Chef schließlich mit Kündigung droht, holt sie sich endlich Hilfe. Sie wendet sich an den Sozial- und Wohlfahrtsverband Volkssolidarität. In einer Selbsthilfegruppe tauscht sie sich mit anderen Betroffenen aus – und wird trocken. Seit nunmehr drei Jahren hat sie keinen Alkohol mehr angerührt.

Leicht ist das nicht. Die Verlockungen der Sucht sind allgegenwärtig: Jacqueline muss aufpassen, was sie isst und was sie trinkt. Selbst jeder Streit und jedes Putzmittel, das nach Alkohol riecht, könnten einen Rückfall provozieren. Doch für den Moment hat Jacqueline die Oberhand. Es ist eine zerbrechliche Ruhe. 

„Mein stiller Freund“ schafft es, diese Zerbrechlichkeit einzufangen und baut dadurch eine Nähe auf, die lange nachhallt. Viel wichtiger ist jedoch die Botschaft, die aus dieser Nähe wächst: Nicht die Augen zu verschließen, wenn Freunde oder Angehörige Hilfe brauchen. Und für sich selbst Hilfe einzufordern, wenn man sie benötigt.

„Mein stiller Freund – Wenn Frauen trinken“ läuft heute Abend um 22.15 Uhr im ZDF. Die Folge gibt es auch bereits in der ZDF-Mediathek. Hier geht es zu der Sendung.

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