Ein Chirurg im Rollstuhl? Thomas Grundmann zeigt, wie es geht

Mittelmeerküste, Südfrankreich, Herbst 2008. Er kennt die beiden Männer nicht, denen er sein Leben anvertraut. Aber er sorgt sich nicht. Er weiß ja Bescheid. Schließlich ist er ausgebildeter Taucherarzt. Hat bei der Marine gedient, taucht seit zig Jahren. Er bespricht sich mit den beiden Mittauchern. Gemeinsam wollen sie vor der Stadt Fréjus in eine Untiefe hinabschwimmen, ein „blaues Loch“. Schön soll es dort sein, klares, warmes Wasser, keine Gefahr. Thomas Grundmann, Chefarzt, Surfer, schwarzer Gürtel im Judo, sagt den beiden Männern, er wolle keinen „Deko-Tauchgang“ machen, denn dafür habe er nicht das passende Equipment dabei. „Deko“ steht für „Dekompression“, eine Technik, bei der man ab einer bestimmten Tiefe und Dauer beim Auftauchen Zwischenstopps einlegen muss, um den Druck auszugleichen.

Alles klar, kein Problem. Sie tauchen, hinunter ins blaue Loch. Thomas Grundmann genießt diesen Tauchgang, das langsame Dahinschweben, das Wasser, die Stille. Er fühlt sich in diesen Momenten kraftvoll und lebendig. Doch diese Minuten werden seine Biografie in ein Vorher und ein Nachher teilen. Thomas Grundmann wird überleben, aber sein Leben nach dem Auftauchen wird ein anderes sein.

Grundmann kämpfte sich ins Arbeitsleben zurück 

Das Leben danach 

Hamburg, Herbst 2018. Um viertel vor acht fährt der Chef vor. Sein Gefährt ist schwarz und silberfarben und hat keinen Motor. „Guten Morgen“, begrüßt Thomas Grundmann seine Kollegen in dem kleinen Arztzimmer der HNO-Station im Asklepios-Klinikum Altona. „Alles gut überstanden?“ Die Ärzte lachen. Am Wochenende hatte die ganze Abteilung in der Hamburger Innenstadt im „Hofbräuhaus“ gefeiert. „Warum hatten eigentlich nur zwei von uns eine Lederhose an?“, fragt Grundmann feixend. „Der Kollege, der aus Guatemala stammt – und ich!“

Grundmann schaut zu seinen Kollegen auf. Denn seit jenem verhängnisvollen Tag in Südfrankreich vor zehn Jahren sitzt der HNO-Spezialist im Rollstuhl, als einziger Chefarzt in einem operativen Fach an einer deutschen Klinik. Wenn er zur Visite aufbricht, kommt er nicht mit einem Pulk von Assistenten in das Patientenzimmer gerauscht. Nur eine Kollegin begleitet ihn. Er steht nicht im gestärktem Kittel mit Goldknöpfen am Fußende des Bettes, spricht nicht von oben auf den Kranken herab. Stattdessen fährt er mit seinem Rollstuhl dicht ans Bett einer jungen Frau mit Locken, Haarband und Nasengips – und spricht auf Augenhöhe mit ihr.

Sie erlitt im vergangenen Jahr einen schweren Autounfall und hat seitdem, sagt sie, eine Krankenhausphobie. Grundmann hat vor ein paar Tagen ihre Nase operiert, aufgebaut wie er sagt, sie wieder ansehnlich gemacht. Er empfiehlt ihr eine Salbe, mit der sie zu Hause die Nase eincremen soll, damit sie gut heilt. Die Patientin lächelt, scherzt und erscheint gar nicht mehr ängstlich.

Dass er eines Tages wieder ganz normal Visite machen könnte, als HNO-Chefarzt und Abteilungsleiter von zehn Ärzten und 20 Pflegekräften, das war vor zehn Jahren nicht abzusehen.

„Warum ich?“

Die beiden Männer, die Grundmann kaum kennt, geben das Zeichen zum Auftauchen. Als er an die Oberfläche kommt, wird ihm schlecht. Ein seltsamer Druck lastet auf seiner Brust. Thomas Grundmann schwimmt zurück auf zehn Meter Tiefe und verweilt dort eine Zeit lang. Als er erneut auftaucht, geht es ihm etwas besser. Ein Freund fährt ihn zurück in sein Feriendomizil. „Eigentlich wollte ich zu Hause einfach eine Aspirin nehmen“, blickt der Arzt heute zurück, „doch als ich versuchte, aus dem Auto auszusteigen, konnte ich meine Beine nicht mehr bewegen. Im ersten Moment habe ich gar nicht richtig kapiert, was los war.“

Er wagt kaum, das Undenkbare zu denken. Sollte der Tauchgang seinen Körper geschädigt haben – das Rückenmark? Der Freund alarmiert einen Arzt, ein Hubschrauber fliegt Grundmann nach Toulon auf die Intensivstation. Diagnose seiner französischen Kollegen: schweres Deko-Trauma, Caisson-Erkrankung. Wenn Taucher längere Zeit einem hohen Druck in der Tiefe ausgesetzt sind, sammelt sich Stickstoff im Gewebe. Taucht man zu schnell auf, bilden sich kleine Gasperlen. Sie können unter anderem jene Blutgefäße verstopfen, die das Rückenmark versorgen. Das Ergebnis bei Grundmann: Er kann die Arme und Beine nicht mehr bewegen. Und sie fühlen sich taub an. Er muss sofort in die Druckkammer – acht Stunden lang. Dort atmet man reinen Sauerstoff ein. Dadurch sollen die Gasblasen kleiner werden und der im Gewebe gelöste Stickstoff gegen Sauerstoff ausgetauscht und besser abgebaut werden.

„Ich war völlig fertig“, erinnert sich Grundmann heute, „mich quälte anfangs eine einzige Frage: Warum ich?“ Das „blaue Loch“ musste tiefer gewesen sein, als die Männer gesagt hatten. Und er war zu lange in dieser Tiefe geblieben und dann zu schnell aufgestiegen.

Vier bis fünf Operationen jeden Tag 

Alles sah danach aus, dass Grundmann hochgradig an Armen und Beinen gelähmt bleiben würde. Immerhin: In der letzten Stunde in der Druckkammer konnte er ein paar konstruktive Gedanken fassen. Grundmann – Vater von drei Kindern, geschieden – formulierte wichtige Fragen im Kopf. Etwa: Wie kann ich ein wertvolles Mitglied meiner Familie bleiben? „Der Beruf stand interessanterweise erst einmal gar nicht im Vordergrund2, sagt er.

Seit zehn Jahren sitzt er jetzt im Rollstuhl, er hat eine „inkomplette Querschnittslähmung“. Inkomplett bedeutet, dass das Rückenmark nicht vollständig geschädigt ist und er die Arme und Beine wieder bewegen kann und spürt – aber nicht mehr wie früher. Gehstrecken bis zu 400 Metern bewältigt Thomas Grundmann mithilfe von zwei Unterarmstützen, so läuft er beispielsweise den Weg aus der Kliniktiefgarage zum Aufzug und in sein Arztzimmer oder daheim die zwölf Treppenstufen bis zu seiner Wohnungstür hinauf. „Klar, manche Patienten denken auch, wenn sie mich das erste Mal sehen: Kann der mich überhaupt anständig operieren?“, sagt er.

Er kann. Grundmann ist Spezialist für plastische rekonstruktive Chirurgie – wiederherstellende Eingriffe nach Unfällen oder Tumoren, bei Fehlbildungen. Vier bis fünf Operationen führt er jeden Tag durch, große Eingriffe können bis zu sechs Stunden dauern. Für einige ist der Experte die letzte Hoffnung, wie etwa für die nächste Patientin bei der Visite, eine junge Ärztin. Sie hat in den vergangenen zehn Jahren Dutzende komplizierte Operationen im Hals- und Ohrenbereich in verschiedenen Kliniken über sich ergehen lassen und ist nun froh, bei Grundmann gelandet zu sein.

Ein spezieller Stuhl ermöglicht Grundmann seine Arbeit

An diesem Herbstmorgen steht noch eine „Naseneingangsplastik“ auf dem OP-Plan. Die Patientin liegt bereits in Narkose auf dem OP-Tisch. Sie hat eine zu weiche Nasenspitze, sodass die Nasenflügel beim stärkeren Atmen zusammenklappen und ihre Nasenlöcher versperren. Grundmann hat sich in der Schleuse grüne OP-Kleidung, Haube und Mundschutz angezogen und setzt sich im OP-Saal 9 seine Lupenbrille auf. Dann stemmt er sich mit den Armen aus dem Rollstuhl und hievt sich in einen Spezialstuhl. Die OP-Schwester hilft ihm, Hände und Arme zu desinfizieren, und hüllt ihn in den sterilen OP-Kittel.

Der Spezial-OP-Stuhl wurde extra für Grundmann angefertigt: Er lässt sich mit einem Elektromotor bedienen, justieren, kippen und feststellen – und fällt nicht um. „Ganz wichtig“, sagt der Chefarzt und lächelt hinter seinem Mundschutz. „Mit dem Vorgängerstuhl bin ich einmal aus Versehen rückwärts über ein Kabel gerollt und nach hinten umgekippt. Da lag ich wie ein Käfer auf dem Rücken, das ganze Team hat gelacht – und mir hat das Steißbein noch Tage lang wehgetan.“

Behände meißelt Grundmann in den nächsten 30 Minuten Knorpel aus der Nasenscheidewand der Patientin und stabilisiert damit die Nasenspitze. Dafür schneidet er die Knorpelstücke in schmale Streifen und schiebt sie in kleine Schlitze, die er in das weiche Gewebe der Nasenspitze geschnitten hat. „Das funktioniert so ähnlich wie bei einem Segelschiff, bei dem man dünne Kunststofflatten als Verstärkung in schmale Laschen am Segel schiebt“, erklärt er.

Mithilfe eines Spezialstuhls kann Grundmann operieren 

Ein Unglück folgt dem nächsten 

Thomas Grundmann hat das geschafft, was vielen anderen Querschnittsgelähmten nicht gelingt: die Wiederaufnahme des alten Berufs. Nach Angaben der Deutschen Rentenversicherung sind 30 Monate nach einer stationären Rehabilitation zwei Drittel aller Gelähmten nicht ins Arbeitsleben zurückgekehrt, sondern haben einen Rentenstatus angenommen.

Der Weg zurück in den Job begann für Thomas Grundmann mit einem winzigen Triumph, auf dem Rücktransport nach Deutschland per Ambulanzflugzeug – das war zweieinhalb Wochen nach dem Unfall. „Da konnte ich immerhin wieder mit einem Zeh wackeln“, erinnert er sich. Von November 2008 bis März 2009 war er zur Reha im Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Hamburg-Boberg, die Kraft und das Gefühl in den Armen nahmen zu. Und er schaffte es, auf die Holme eines Barren gestützt, mühsam erste Schritte zu setzen. Grundmann trainierte sein Gleichgewicht auf dem Rüttelbrett, einer Platte, die – je nach Stufe – unterschiedlich stark vibriert. Er machte Schwimmübungen, nahm am therapeutischen Reiten teil, lernte, wie man mit einem Rollstuhl fährt und damit Rolltreppen bewältigt.

Mit der Psychologin wollte er nicht sprechen, weil er glaubte, in ihrer Gegenwart nicht weinen zu können. „Beim Krankenhauspfarrer habe ich das aber gemacht, da konnte ich mich fallen lassen“, sagt er. Was sollte noch kommen?, fragte er sich zu der Zeit oft. Vor dem Unfall hatte ihn seine damalige Freundin verlassen. Es stellte sich heraus, dass der Mann, der Grundmanns Haus gekauft hatte, ein Betrüger war und nicht zahlte. Und ein Freund der Tochter hatte sein Auto zu Schrott gefahren. Außerdem brauchte er eine neue Wohnung, in der er mit dem Rollstuhl und den Gehstützen zurechtkommen würde. Und dann kam doch die Frage auf: Würde er es schaffen, wieder zu arbeiten?

Kein Halbgott in Weiß mehr

Einige Kollegen im Altonaer Krankenhaus hatten eine Idee, wie sie Grundmann die Rückkehr erleichtern konnten: Sie quartierten ihn im „Storchennest“ ein, einem Apartmenthaus direkt neben der Klinik, in dem frischgebackene Eltern nach der Geburt Zeit mit ihrem Baby verbringen können.

„Thomas hatte es dort nah zur Klinik, und die Räume waren ebenerdig“, erinnert sich Volker Ragosch, der seit 18 Jahren Chefarzt der Gynäkologie und inzwischen auch Ärztlicher Direktor des gesamten Krankenhauses ist. „Am Anfang dachte ich: Das wird schwierig für ihn, ob er das gewuppt kriegt?“, sagt Ragosch. „Operative Tätigkeit ist körperlich eine Herausforderung und ein Knochenjob.“

Grundmann aber trainierte eisern weiter und begann bald, wenige Stunden zu arbeiten. „Ich wusste ja gar nicht, wie einsatzfähig ich bin“, sagt er. Doch es ging – Sprechstunde, Untersuchungen, Visite und schließlich auch das Operieren, im Sitzen. Außer Grundmann gibt es in Deutschland sehr wenige andere Ärzte, die im Rollstuhl sitzen und operieren: etwa einen Professor für Neurochirurgie an der Uniklinik Ulm und einen Neurochirurgen in Halle an der Saale.

Volker Ragosch sagt: „Thomas ist ein Kämpfer, er hat das brillant gemeistert, macht seinen Job verdammt gut und ist immer positiv dabei. Er hat es geschafft.“

Und all das, was er geschafft hat, hat ihn menschlich verändert. „Früher war ich als Arzt eher ein Technokrat und freute mich etwa, wenn mir eine bestimmte OP-Technik gut gelungen war“, sagt Grundmann. „Heute werde ich anders entlohnt: Durch mehr Nähe zu den Patienten. Mit manchen führe ich beinahe freundschaftliche Gespräche.“ Kein Halbgott in Weiß ist er mehr, sondern tatsächlich ein Mensch.

„Das Leben ist ein anderes, aber kein schlechteres“

Neue Passion: Vor Fehmarn lernt Grundmann Kite-Surfen 

Mit wachem Blick hört der Chefarzt seinen Patienten zu, zugewandt und gelassen, warmherzig. „Die Patienten nehmen mich als einen von ihnen wahr“, erklärt der 60-Jährige. „Ich bekomme oft schnell eine Verbindung zu ihnen.“ Seine Kinder sind inzwischen 30, 28 und 20 Jahre alt, mit seiner Exfrau versteht er sich gut, vor fünf Jahren lernte er seine jetzige Lebensgefährtin kennen. „Das Leben nach diesem Unfall ist ein anderes, aber kein schlechteres“, sagt er. Was er nicht gut vertragen kann, ist Mitleid. So hat er nach dem Unfall den Kontakt zu jenen Freunden oder Bekannten nach und nach auslaufen lassen, die sagten: Du Armer, das ist ja fürchterlich.

Heute fühlt sich sein Körper ab Mitte des Brustkorbs abwärts anders an, „wie eingeschlafen oder mit Muskelkater“. Aufgrund der Rückenmarkverletzung neigt seine Muskulatur zu Krämpfen, dagegen nimmt er jeden Tag Tabletten. Und damit seine überaktive Harnblase keinen Dauerkrampf bekommt, lässt er sich im Klinikum Hamburg-Boberg wohldosiert das Nervengift Botulinumtoxin in die Blasenwand spritzen.

Seine Beine kontrolliert Grundmann wieder so gut, dass er Autofahren kann. Den Führerschein hat er erneut absolviert. Mit seinem Automatikwagen fährt er bis nach Österreich in den Skiurlaub. Sport ist nach wie vor seine Passion: Vor sechs Jahren lernte er, der einst Jahrzehnte lang Ski und Snowboard fuhr, wie man einen Ski-Bob lenkt: ein Sportgerät zum Sitzen auf Skiern. „Ich hatte keine Lust, auf der Hütte zu bleiben und Hefeweizen zu trinken, während die anderen auf der Piste sind“, sagt er. Er unternimmt Kajaktouren, fährt im Harz mit dem Liege-Trike-Rad mit Elektromotor-Unterstützung, macht Yoga und steht nach wie vor regelmäßig auf dem Rüttelbrett, Stufe 12 – „fühlt sich an wie eine schwarze Buckelpiste“ .

Zum Kitesurfen nach Ägypten

Seine jüngste Leidenschaft ist Kitesurfen. In Großenbrode am Fehmahrnsund lernt er den Sport bei Sail United e. V. Der Verein, der mit einer Wassersportschule zusammenarbeitet, ist auf Menschen mit allen Arten von körperlichen und geistigen Behinderungen spezialisiert und laut Gründer Tobias Michelsen weltweit einmalig in dieser Art. Das Angebot: Standup-Paddling, Katamaransegeln, Seekajakfahren, Kitesurfen.

An einem Samstagmorgen sitzt Grundmann im Neoprenanzug am Strand und bespricht mit seinem Kitelehrer die Windverhältnisse und technischen Abläufe. Vier Helfer begleiten ihn ins Wasser. Schließlich sitzt er festgeschnallt in einem Stuhl, der auf dem Board fixiert ist. Zwei Stunden ist er unermüdlich im Wasser, lässt sich vom Kite herausziehen, schafft es, fünf bis zehn Meter zu gleiten, kippt um, rappelt sich auf, setzt erneut an. Das Projekt für das nächste Jahr: Grundmann und Tobias Michelsen wollen zum Kitesurfen nach Ägypten fahren.

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