Sie haben Rückenschmerzen? Neuro-Papst empfiehlt Liegestütze mit den Augen

Es wirkt oft skurril, steigert jedoch Kraft und Motorik und hilft nach Verletzungen: Spitzensportler setzen deshalb auf Neuroathletik, viele unter der Anleitung von Lars Lienhard. Im Gespräch mit FOCUS Online erklärt der Sportwissenschaftler, wie die Methode wirkt und wie jeder davon profitieren kann.

Immer mehr Profiathleten ergänzen ihre Trainingseinheiten mit speziellen Übungen für das zentrale Nervensystem. Neuroathletik (NAT) heißt die Trainingsform, die vor allem vom amerikanischen Trainer Eric Cobb entwickelt wurde. Was sie von anderen Trainingsformen und Rehamethoden unterscheidet: Sie begrenzt sich nicht auf Muskeln, Gelenke, und physiologische Prozesse, sondern bezieht das Gehirn und seine bewegungssteuernden Funktionen mit ein, nutzt also die aktuellen Erkenntnisse aus der Neurowissenschaft und Gehirnforschung.

Vor jeder sportlicher Leistung kommt Gehirnschmalz

Lars Lienhard (48 Jahre), Sportwissenschaftler und ehemaliger Leistungssportler (Stabhochsprung, Hürdenlauf), gilt als führender deutscher Experte auf dem Gebiet der Neuroathletik. Er brachte dieses Training nach neuronalen Grundsätzen in den deutschen Leistungssport, hat bereits viele namhafte Sportler nach dieser ganz neuartigen Methode trainiert, ihre Schwachstellen identifiziert und sozusagen weg trainiert, nach Verletzungen ihre Leistung wieder gesteigert. Vor Kurzem hat er auch ein Buch dazu veröffentlicht, „Training beginnt im Gehirn“ (Riva Verlag, 24,99 Euro).

Auf diese Weise machte Lars Lienhard Gina Lückenkemper, Deutschlands schnellste Frau, noch schneller, trainierte mit Per Mertesacker, Olympiasiegerin Tatjana Hüfner und vielen anderen und aktuell z.B. dem Nationalspieler Serge Gnabry. Die Spitzensportler kommen aus den verschiedensten Sportarten und Disziplinen. Doch was versteckt sich wirklich hinter diesem innovativen Trainingsansatz, was passiert dabei und ist das wirklich nur etwas für Profisportler? Für FOCUS Online hat Lars Lienhard die wichtigsten Fragen beantwortet.

FOCUS Online: Unter Training für mehr Leistung denkt jeder an schweißtreibende Übungen. Mit NAT führen Ihre Sportler dagegen eher kleine, oft ein bisschen verrückte Übungen durch. Das ist etwa Schielen. Was soll das bewirken?

Lars Lienhard: Jeder Sinneseindruck – aus den Augen, unserem Gleichgewichtssystem oder aus den Muskel und Gelenken – läuft durch den Körper ins Gehirn und wird dort in verschiedene Areale geleitet, die diese Information verarbeiten und auswerten. Die Signale, die entstehen, wenn sich die Augen kreuzen, gehen vor allem in das Mittelhirn. Das Mittelhirn ist sehr wichtig, weil es unter anderem visuelle und akustische Informationen verarbeitet und mit anderen sensorischen Reizen integriert.

Diese Integrationsprozesse sind wichtig für eine optimale Stabilität von Kopf und Nacken sowie eine gute Regulierung der muskulären Tonusmuster. Vereinfacht: Mit dem Schielen aktivieren wir einen Mittelhirnbereich, von dem aus wichtige Reflexe starten sowie muskuläre Spannung reguliert wird.

FOCUS Online: Eine weitere Übung ist durch die Nase schniefen – welche Funktion hat das?

Lars Lienhard: Je näher eine motorische Aktion Richtung Kopf ist, desto stärker ist der neuronale Reiz, das ist ein neuronales Grundphänomen. Die motorische Aktivität der Nase beim Schniefen aktiviert die sogenannte Vermis, das ist der mittlere Anteil des Kleinhirns. Die Vermis ist verantwortlich dafür, Wirbelsäule und Augen zu koordinieren, also die Mitte des Körpers. Je aktiver die Vermis, desto stabiler bin ich in einer Bewegung. Schniefen aktiviert also Gehirnareale, die an der motorischen Gestaltung unserer Körpermitte beteiligt sind.

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Manche lecken auch an Batterien – um Hirnareale zu aktivieren

FOCUS Online: Manche Sportler haben Sie auch an Batterie lecken lassen?

Lars Lienhard: Ja, das wirkt tatsächlich etwas „strange“. Für die Medien war das natürlich ein schönes Beispiel, weil man damit sozusagen Strom durch den Körper jagt und Gina danach tatsächlich unter elf Sekunden lief. Doch was wirklich dahinter steckt, sind die zahlreichen Hirnareale, die wir gezielt über die Zunge aktivieren können. Wenn man sich den sensomotorischen Humunculus betrachtet – also welcher Körperbereich ist wie groß im Gehirn repräsentiert – ist die Zunge aufgrund ihrer Lage in diesen Repräsentationsfeldern enorm und spielt deshalb für viele Aspekte eine große Rolle.

FOCUS Online: Die Zunge ist beim NAT deshalb ein besonders wichtiges „Trainingsobjekt“. Es gibt dabei auch Übungen mit Zunge herausstrecken oder nah an den Gaumen platzieren. Doch was passiert dabei genau?

Lars Lienhard: Die Zunge liefert mehr sensorische und motorische Informationen ans Gehirn als der gesamte Rumpf. Sie aktiviert einen Bereich im Stammhirn, der auch für Rhythmisierung und Koordination verantwortlich ist. Außerdem werden über die Zunge im Gehirn benachbarte Bereiche, wie die Inselrinde aktiviert, ihre Durchblutung wird verstärkt. In der Inselrinde werden Gleichgewichtsinformationen integriert, was wiederum extrem wichtig für motorische Lernprozesse ist.

Über ein Aktivieren der Zunge können wir letztlich einen sehr starken Reiz in das zentrale Nervensystem setzen, den wir dann als Voraktivierung nutzen können um danach Reize, die nicht so stark wirken, besser und nachhaltiger zu vermaschen. Über die Zunge wird quasi unser Gehirn voraktiviert, um im Anschluss besser und nachhaltiger arbeiten zu können. Für den Sport heißt das: Der Athlet kann Bewegungen schneller erlernen und nachhaltiger wieder abrufen.

FOCUS Online: NAT arbeitet mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus funktioneller Neurologie, mit der Profisportler ihre Leistung steigern können, Schwächen ausgleichen und Verletzung sowie Überlastungen vorbeugen. Wie beeinflusst das Gehirn dabei die sportliche Leistung?

Lars Lienhard: Unter Begriffen wie funktionelle Neurologie können sich die meisten nicht viel vorstellen. Vereinfacht bedeutet das: Bevor es zu einer motorischen Handlung kommt, laufen viele Prozesse ab – das Gehirn braucht eine Menge qualitativ guter Informationen, muss sie verarbeiten und dann in der passenden Situation abschätzen, was die beste Handlung ist. Aus diesen Informationen wird das motorische Programm erstellt und an die Muskeln gesendet. Wie und wo diese Prozesse genau ablaufen und wie man sie gezielt ansteuern kann wissen wir unter anderem aus den Erkenntnissen der funktionellen Neurologie.

Wir arbeiten also mit den Prozessen, die im Vorfeld einer motorischen Handlung ablaufen, damit das bestmögliche motorische Programm entworfen wird. Jede Sportart hat ein gewisses Anforderungsprofil an das Zentralnervensystem des Athleten. Wir stellen nun das zentrale Nervensystem bestmöglich auf diese Anforderung ein.

FOCUS Online: Gehört dazu nicht die auch im Profisport eingesetzte Technik, den Ablauf des Wettkampfes, alle Bewegungen, vorher viele Male in Gedanken durchzugehen?

Lars Lienhard: Ja, das ist ein Teilbereich unseres Trainings, die Ideomotorik. Das Gehirn unterscheidet nämlich nicht zwischen vorgestellter und ausgeführte Motorik, für beides muss es das gleiche Programm entwerfen. Das haben wir etwa mit einer Olympiarodlerin trainiert, weil wir wussten, dass in Sotschi die Trainingsbedingungen nicht optimal sind und nicht ausreichend Zeit für mehrere Läufe vor dem Rennen zur Verfügung steht. Dann arbeiten wir auch mit ideomotorischen Prozessen, aber das ist nur ein Teil unseres Trainings.

FOCUS Online: Wie beginnen Sie das Training mit einem neuen Klienten? Wie lange dauert es, wie oft sollte man üben?

Lars Lienhard: Ich trainiere beim Erstkontakt rund drei Stunden im Spitzensport, manchmal auch länger. Zuerst mache ich eine Anamnese und stelle ein neuronales Profil auf. Denn meist werde ich ja gerufen, wenn Probleme auftauchen. Anhand von vielen Tests und der Verletzungshistorie erkenne ich, wo mein Training ansetzen sollte – ist es zum Beispiel ein Problem der motorischen Ansteuerung, ein Problem des Muskeltonus? In wie weit ist das visuelle System, das Gleichgewichtssystem daran beteiligt, et cetera? Danach wähle ich die passenden Übungen aus und diese werden dann trainiert. Rund 20 bis 30 Minuten pro Tag muss jeder dafür investieren.

FOCUS Online: Wer kann von NAT profitieren, auch Hobbysportler oder prinzipiell jeder?

Lars Lienhard: Ja, jeder. Vor allem die vielen, die körperlich monoton arbeiten, also wer viel sitzen muss und am Monitor arbeitet, oder allgemein wenig Bewegung hat. Bei diesen Menschen ist das zentrale Nervensystem oft noch mehr belastet als bei Profisportler. Für sie ist eine Verbesserung der bewegungssteuernden Systeme besonders wichtig. NAT kann hier natürlich hervorragende Dienste leisten.

Übungen für den Alltag: Von Augen-Liegestütz bis Palming

FOCUS Online: Welche Übungen empfehlen Sie denen, die viel am Schreibtisch sitzen?

Lars Lienhard: Wenn sich jemand wenig bewegt, erhält das Gehirn zu wenig Reize von den Bewegungs(mechano)rezeptoren, dadurch werden nicht nur die zuständigen neuronalen Areale in ihrer Funktion reduziert, es wirkt sich auf das gesamte Gehirn aus. Unser Gehirn „lebt“ quasi von Bewegung – vereinfacht ausgedrückt. Mechanorezeptoren befinden sich vor allem in den Geweben um die Gelenke herum, in den Muskelsehnenübergängen und Bändern. Deshalb gehören entsprechende Übungen, etwa mit Gelenkkreisen zur Basis unseres Trainings und sind vor allem für diejenigen wichtig, die sich wenig bewegen und viel sitzen müssen.

FOCUS Online: Gibt es noch andere Übungen, die sich auch für den Alltag eignen?

Lars Lienhard: Wichtig ist etwa, die Augen zu entspannen. Das funktioniert mit Palming. Reiben Sie dazu Ihre Hände aneinander, bis sie warm sind. Legen Sie sie dann über die geschlossenen Augen und versuchen Sie, es ganz dunkel werden zu lassen. Die Dunkelheit und das Abschirmen aller Reize tut den Augen gut, die sich dann erholen. Denn wenn die Augen Stress haben, steht der ganze Körper unter Druck. Wir nutzen Palming auch bei Sportlern in der Pause zur Entlastung.

Eine weitere, einfache, aber wirkungsvolle Übung aus dem NAT: Sie führen mit dem Finger Spiral- und Kreisbewegungen vor den Augen aus und folgen jeder der Bewegungen mit den Augen. Versuchen Sie dabei, den Finger ganz scharf zu sehen, das koordiniert die Augen wieder richtig. Sie dürfen dabei allerdings nicht den Kopf bewegen.

Auch das anfangs beschriebene Schielen ist eine gute Übung, wir nennen das Augen-Liegestützen. Halten Sie den Zeigefinger auf Höhe der Nasenwurzel etwa 40 bis 50 Zentimeter entfernt und bringen den Finger dann langsam bis zur Nase; sehen Sie ihn dabei mit beiden Augen an. Die Augen gehen dabei unweigerlich nach innen, schielen also. Das trainiert Augenmuskeln, die in ihrer Funktion sonst kaum gezielt genutzt werden, wirkt auf das Mittelhirn und stabilisiert zusätzlich die Nackenwirbelsäule – Effekte, die für Schreibtischarbeiter besonders wertvoll sind.

FOCUS Online: Wer gezielt NAT für sich nutzen möchte, wendet sich am besten wohin?

Lars Lienhard: Es gibt verschiedene Neuroathletiktrainer. Achten Sie auf Trainer, die nach dem Ausbildungssystem von Dr. Eric Cobb gelernt haben. Das ist etwa bei Perform Better und bei Focus on Performance der Fall.


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